Die Zeit im Wartesaal einer Spitals-Ambulanz nützte Meinrat Anfang Februar um endlich wieder mal ein zeitgeistiges Magazin in die Hand zu nehmen, gleich auf den ersten Seiten sprang ihm die Karikatur mit dem Titel «Was tun mit zugereisten Sexualstraftätern?» ins Auge, und er sah sich spontan genötigt, den folgenden Text zu verfassen.
Grafik: Karl Berger
Vor etlichen Jahren hatte Meinrat eine Verabredung mit der blonden Heidi* im Wiener Café Ritter. Sie kam auch fast pünktlich, am noch hellen späten Nachmittag, aber völlig aufgelöst. Auf der belebten Kreuzung Mariahilfer Straße/Neubaugasse hatte sie ein Afrikaner einfach gepackt, sie auf den Mund geküsst und versuchte mit größter Selbstverständlichkeit, mit ihr zu schmusen. Heidi war momentan so perplex und erstarrt, dass sie eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um ihn abzuschütteln. Im Café erzählte Heidi dann Meinrat neben dem eben Vorgefallenen von unverschämten Avancen, denen sie immer wieder ausgesetzt ist. Ein Afrikaner hatte sie z. B. dabei beobachtet, wie sie beim Einparken ganz leicht ein anderes Auto an der Stoßstange touchiert, aber nicht beschädigt hatte. Er gab sich als Eigentümer dieses Wagens aus und kam unverblümt zur Sache: Er würde von einer Anzeige nur absehen, wenn sie mit ihm ficke. Meinrat konnte dann auf Ersuchen von Heidi die Angelegenheit gütig regeln, soll heißen, der Heißblütige gab klein bei, als er auf das (Schein-)Angebot eines Schadenersatzes keine Fahrzeugdaten nennen konnte.
Übergriffe auf Afrikanerinnen von weißen, österreichischen Männern sind ein weißer Fleck in der Wahrnehmung
Möglicherweise macht sich jetzt aber Verwunderung breit, warum diese Übergriffe nicht medial breitgetreten wurden. Bevor nachträglich die imaginäre «weiße Volksseele» hochkocht, bekennt Meinrat: Heidi ist in Wirklichkeit Afrikanerin mit dunkler Hautfarbe und die Übergriffe wurden von weißen, österreichischen Männern begangen – ein weißer Fleck in der Wahrnehmung, üblicherweise keine Schlagzeile wert. Das trifft auch auf rassistische Demütigungen von Afrikaner_innen zu. Drei Beispiele:
– Heiter ging es 2015 zu in der Runde von Afrikaner/Innen, die sich beim Familienfest für den 4. Geburtstag von Alegria*, die mit ihrem fröhlichen Wesen ihrem Namen alle Ehre macht, zusammengefunden hatten, mitten drinnen deren Mutter, Carmen*, mit größtem Vergnügen aus ihrem Arbeitsleben als Heimhilfe für alte Menschen schauspielernd. Ein Telefongespräch lebt sie von beiden Seiten nach. Die Tochter eines Betreuten besorgt: «Ist die Heimhilfe schon da?» «Ja, eine Negerin.» «Was, ich verstehe dich nicht, ist die Heimhilfe schon gekommen?» «Ja, sie ist eine Negerin.» Carmen lief zur Hochform auf, spielte danach den alten Mann mit voller Inbrunst: «Also du bist die Neue – eine Negerin. Bevor du mich anrührst, geh in einen Waschsalon und wasch` dich gründlich. Warum machst du überhaupt auf Pflege? Hast du im Affenhaus vom Tiergarten Schönbrunn keine Arbeit gefunden?» Die Stimmung war nun am Höhepunkt, Carmen klopfte sich auf die Schenkel, lachte sich krumm, gemeinsam mit der lauten, fröhlichen Runde: Niemand entrüstete sich, als sei das alles business as usual.
– Herbsttag 2015 in der Straßenbahn Linie 49 an der Grenze zwischen 15. und 7. Wiener Gemeindebezirk. «Ich bin ein Nazi und ich bin stolz drauf. Wir haben nach dem Krieg alles wiederaufgebaut und ihr Schmarotzer wollt uns alles wieder wegnehmen. Schleicht`s eich ham, ihr Neger-Pack, geht`s zurück nach Afrika, ihr habt´s hier nix valurn», schleuderte der offensichtlich nicht mehr ganz nüchterne Mann mittleren Alters drei zirka 14- bis 15-jährigen Schulmädchen entgegen, darunter eine mit dunkler Hautfarbe, die danach von ihren Freundinnen verteidigt wurde. Als Meinrat den Nazi auch zur Rede stellte – warum ein Mensch auf eine menschenverachtende und -mordende Ideologie stolz sein kann, wird für Meinrat immer ein Rätsel bleiben – stachelte ihn dies noch mehr an, zumal er in der Zwischenzeit auch Unterstützung erhalten hatte, ausgerechnet von einer Frau. Die lautstarke Auseinandersetzung nahm wiederum der Tramwayfahrer zum Anlass, ein neutrales Machtwort zu sprechen: «Wonn net sofurt a Ruah is, faohr i net weida und ruaf de Polizei.»
– Nach dem Besuch des Zirkus «Afrika, Afrika!» wurden drei afrikanische Frauen, eine Studentin, eine Kellnerin und eine Altenpflegerin, vor etlichen Jahren im Wiener Prater aus dem Auto heraus von einem jungen, kräftigen Mann (aus Bosnien, dessen schwangere Freundin neben ihm saß) auf das unflätigste als Huren beschimpft. Als Natalie* sich das nicht gefallen ließ und zurückschimpfte, stieg dieser aus, ohrfeigte alle drei Frauen, wobei er zwei verletzte. Meinrat nahm an der Gerichtsverhandlung mit einem völlig uneinsichtigen Angeklagten teil, wobei sich die Richterin davon nicht beeindrucken ließ und den Übeltäter wegen Körperverletzung verurteilte.
Die Abgründe, die Ödön von Horváth in «Jugend ohne Gott» in den 1930er-Jahren zu Papier brachte, sind also auch im 21. Jahrhundert noch vorhanden. Längst hatte Meinrat die Geschichten aber abgehakt und verdrängt, denn er vertraute darauf, dass die Kultur und die Brücken des Miteinanders viel stärker waren. Und viele Immigranten_innen, auch aus Afrika, fanden sich hier zurecht, und einige Auserwählte stiegen sogar zu Lieblingen der Massen auf. So wurde einem rechten Politiker und Publizisten (dem interessanterweise öfters das Attribut «intellektuell» zuteil wird), nicht der Ausdruck «Neger-Konglomerat» für die EU, sondern erst eine abfällige Bemerkung über das österreichische Fußballidol David Alaba (mit nigerianisch-philippinischen Eltern) zum Verhängnis.
Wir wollen nur einen Arbeitsplatz
Die sexuellen und rassistischen Übergriffe anzuzeigen war übrigens keine Überlegung wert, sowohl Heidi (1) als auch Carmen hatten sich mit den Anfeindungen und verbalen bzw. physischen Übergriffen abgefunden. Beide waren zudem nicht an Politik interessiert, wobei Carmen einmal so nebenbei bemerkte: «Ihr habt uns Jahrhunderte ausgebeutet, jetzt kommen wir und wollen nur einen Arbeitsplatz.» Womit sie dem stolzen Nazi zumindest zur Geschichte des Kolonialismus etwas Nachhilfe geben könnte. Viele Afrikaner_innen scheinen auch ganz andere Sorgen zu haben, solche Bagatellen (in ihren Augen) scheinen sie nur abzulenken vom alltäglichen Bemühen, nein, Kampf, hier Fuß zu fassen und dabei auch auf alles achten zu müssen, was ihnen irgendwie zum Menschsein verhilft, denn ohne Papiere, ohne längerfristige Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen haben sie das Gefühl, in einem Nichts zu schweben. Darüber hinaus dominiert bei fast allen Afrikaner_innen eine große Verbundenheit mit der Familie, die auch Onkeln und Tanten, Cousinen und Cousins, Freundinnen und Freunde inkludiert. Alle erwarten zu Hause, dass der ins «Schlaraffenland» Gesandte sie ernährt. Tatsächlich entsprechen die Transfers der afrikanischen Diaspora in Europa insgesamt um mehr als das Doppelte der Entwicklungshilfeleistungen aller europäischen Staaten zusammen. Dieser enormen Herausforderung sind jene (da würde im Fall der Fälle die Hautfarbe auch keine Rolle spielen), die jahrelang zur Untätigkeit gezwungen werden und auf Asylbescheide, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen warten, öfters nicht gewachsen: Frauen driften in die Prostitution (interessanterweise für Asylwerberinnen legal!) ab, Männer lassen sich auf illegalen Drogenhandel ein, was bereitwillig für populistische und rassistische Argumente verwendet wird. Dieses heiße Eisen schwelt schon seit Jahren, und wer es anfasst (wie jüngst der neue Bundeskanzler Kern) erntet einen eiskalten und heftigen Sturm der Entrüstung. Lieber ein paar Dealer und Prostituierte mehr als ein paar neue Erwerbstätige?
Und es ist es wirklich so schwer zu begreifen, dass die Hautfarbe eines Menschen, nichts mit dessen Handlungen, dazu zählen auch Verbrechen, zu tun hat? Dazu bedarf es doch keiner langen wissenschaftlichen Studie. Frau/Mann = Mensch, ob schwarz, braun, rot, gelb oder weiß. Doch Meinrat muss zur Kenntnis nehmen, dass die Idee des globalen toleranten Miteinanders, z. B. musikalisch und auch filmisch so wunderbar von Paul Simon mit afrikanischen Musiker_innen in «Graceland» umgesetzt, nicht mehr den entsprechenden Widerhall findet. Hochgespült von sozialen Netzwerken wird so manches in der Öffentlichkeit salonfähig (siehe hasserfüllte und perverse Postings auf Facebook, denen hier kein Forum geboten wird), was vor nicht allzu langer Zeit für absolut untragbar gehalten wurde. Junge Männer aus Nordafrika und aus arabischen und asiatischen Ländern – zu recht – zu verurteilen, wenn sie Europäerinnen als Freiwild betrachten, aber spiegelverkehrt den unter- und übergriffigen Umgang von europäischen Männern mit afrikanischen Frauen und rassistische Tendenzen zu negieren, schürt nur weitere Ressentiments. In beiden Fällen spielt jedenfalls das Ausleben einer präpotenten «Macho»-Überheblichkeit, wofür auch die Eltern dieser Männer mitverantwortlich sind, eine große Rolle.
Kinder auf Spielplätzen
Meinrat hatte in der letzten Zeit auch immer wieder Gelegenheit, Kinder auf Spielplätzen, in Kindergärten und Bädern, und dort das fröhliche Miteinander von unterschiedlichsten Kulturkreisen mit allen erdenklichen (Haut-)Schattierungen zu erleben. Er beobachtete dabei, dass Konflikte großteils gütig beigelegt werden. Wobei ihm zugleich die Frage «Wo kommen die dummen Erwachsenen her?» (2) einfiel.
Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud ist zuletzt durch seine Kommentare von unterschiedlichsten Kreisen in Misskredit geraten und kritisierte z. B. in einem Interview die in seinen Augen häufig anzutreffende krankhafte Beziehung der arabischen Welt zum weiblichen Geschlecht: «Trotz aller Unzulänglichkeiten beneide ich den Westen um die Rolle der Frau in seiner Gesellschaft. Wer aber eine krankhafte Beziehung zur Frau hat, hat auch eine krankhafte Beziehung zur Welt, was seine Kreativität, seine Freiheit, seinen Körper und seine Begierden betrifft.» (aus «Die Zeit», Nr. 11/3.3.2016) Letzteres sollte außer Streit stehen, die Unzulänglichkeiten sind aber wohl auch im Westen größer, als Daoud vermutet.
*Namen geändert
1) Am Montag, dem 21. 3. 2016, kam es in Wien in der U1 dann tatsächlich zu einem ähnlichen Übergriff: Ein Mann (Beschreibung: dunkler Typ) küsste eine Wiener Unternehmensberaterin auf den Mund. Der Vorfall fand sofort Widerhall in der Presse: Am 22. 3. 2016 sprach die Gratiszeitung «Heute» von einem Ekel-Übergriff bzw. am 23. 3. von einer Kuss-Attacke.
2) Aus dem Lied «Die dummen Erwachsenen» von Georg Danzer