Seit 10 Jahren für einen Journalismus des Unspektakulärentun & lassen

Den Leuten Mut zum Schreiben machen?

Begeistert war er überhaupt nicht, von der Idee eines Interviews im Augustin. Aber der Augustin ist ja schließlich kein autoritär geführter Betrieb. Dort entscheidet nicht das Diktat des Einzelnen, sondern das des Plenums – und das genehmigte das Unterfangen. Ein Gespräch mit dem Redakteur und Zeitungsgründer Robert Sommer anlässlich 10 Jahre Augustin.Ebenso wenig begeistert war er vom ursprünglich geplanten Titel für dieses Porträt, nämlich: „Alle lieben Robert“. Aber der Titelvorschlag war sowieso nicht ganz ernst gemeint, sondern eine kleine Revanche dafür, dass er mir in der letzten Augustinnummer den schönen Titel zum Hans-Scheirl-Interview, nämlich „“Die Frauen lieben Hans““, nicht gelassen hatte. Die üblichen Raufereien zwischen Redaktion und Schreiberlingen also … und damit sind wir schon mitten drin, in der Zeitung.

Nicht dass das was Neues wär‘, für den „koordinierenden Redakteur“ (so heißen ChefredakteurInnen in Zeitungen mit basisdemokratischem Anspruch) des Augustin.

Seit über 30 Jahren ist Robert Sommer im Journalismus. Beabsichtigt war das nicht. Angefangen hat alles mit einem Praktikum bei der „Volksstimme“ in den Siebzigerjahren. Das waren die Zeiten, als Praktika noch zu „richtigen Jobs“ führten. Gleich nach der Matura im St. Pöltener Gymnasium war Sommer, geboren Ende 1951 in Niederösterreich im Bezirk Lilienfeld, in einem kleinen Dorf „mit drei Wirtshäusern und drei anderen Häusern“, die Flucht nach Wien angetreten. Neben einem eher halbherzig betriebenen Studium versuchte er sich damals – der Zeit entsprechend – im ausgeflippten Leben eines Hippie. Bloßfüßig und mit einem Stirnband im schwarz gelockten langen Haar zog er durch die Gegend, probierte LSD, fuhr mit dem alten VW seines Vaters, den er mit einer roten Fahne schmückte, übers Land und versuchte, die Leute zu missionieren. „Ich engagierte mich damals vor allem in einer Kampagne zur Abschaffung des Bundesheeres“, erinnert sich Sommer. Zur KPÖ kam er erst später, ein ehemaliger Schulfreund erzählte ihm von einem Ferienjob bei der „Volksstimme“. Drei Monate hätte der dauern sollen, es wurden fast zwanzig Jahre draus.

Anfang der Neunzigerjahre war Robert Sommer 40 Jahre alt, ohne Job und um ein paar Illusionen ärmer. Es folgte eine mehrjährige Durststrecke als freier Journalist, in der er für Zeitungen schrieb, an die er sich heute lieber gar nicht mehr erinnern möchte. Da stieß er zum Uhudla, der damals noch im Burgenland beheimatet war. „Uhudla-Macher Max Wachter und ich wollten eine Straßenzeitung machen, so wie es sie damals schon in anderen Großstädten wie New York, London, Hamburg, Paris erfolgreich gab. Der Uhudla wurde eine Art Testlabor für eine zukünftige Straßenzeitung. Wir machten eine Schreibwerkstatt, stellten den Leuten im Uhudla einen Platz für Straßenpoesie zur Verfügung und machten uns auf die Suche nach Obdachlosen, die den Uhudla verkauften. Dass eine Straßenzeitung in Wien ,“Augustin“‚ heißen würde, war naheliegend. In der Wiener Legende ist der Augustin der erste bekannte Sandler, ein Alkoholiker, der so betrunken war, dass er sogar die Pest überlebte.“ Zur Gründungsgeschichte des Augustin gehören allerdings nicht nur Männer. Riki Parzer, von Beruf Sozialarbeiterin und Robert Sommers Lebensgefährtin schuf, gemeinsam mit anderen, das zweite Standbein des „Augustin“, das Sozialprojekt.

Gesellschaftskritik und AussteigerInnen-Romantizismus

Die Balance des Augustin zwischen Sozialkritik, parteilichem Journalismus und einer gewissen Sozialromantik, wie manche KritikerInnen meinen, ist eine prekäre. „Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich Menschen des Typs AussteigerInnen suche. Die erzählen dann von einem ,selbst gewählten‘ Leben am Rand – und wir als JournalistInnen sind gern bereit, das aufzunehmen, weil es vielleicht den eigenen Romantizismus anspricht und der Drang raus aus der Gesellschaft in gewisser Weise auch unserer gesellschaftskritischen Sicht entgegenkommt. Gleichzeitig wissen wir, dass es manchmal ein Selbstbetrug ist, dass ein geheimer Wunsch nach einem Leben mit Familie, Haus und Hund auch da ist, aber oft nicht zugegeben wird. Wir übernehmen da die Version der Straßenleute 1:1, obwohl wir wissen, dass es sehr ambivalent ist“, sagt Sommer, der auf der „Hero“-Seite des „Augustin“ immer wieder „Augustin“-VerkäuferInnen porträtiert und dabei gelegentlich die Schelte diverser Ämter in Kauf nehmen muss, wenn er die Sicht der Unterprivilegierten unverstellt wiedergibt.

Was eine Straßenzeitung ausmacht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche erkennen eine Straßenzeitung nur dann als solche an, wenn sie ausschließlich von so genannten Betroffenen geschrieben wird. Nun macht Betroffenheit aber keineswegs automatisch gesellschaftskritisch. Im Gegenteil. Wie Erfahrungen etwa in der Schreibwerkstatt zeigen, ist die Sehnsucht nach Harmonie und dem, was ein normales Leben genannt wird, bei vom Schicksal Gebeutelten oft und verständlicherweise nicht weniger klein als bei anderen. „Ein ausschließlich von Straßenmenschen gemachtes Medium wär‘ möglicherweise ein sehr angepasstes Medium“, mutmaßt Sommer.

Übersetzungsarbeit leistet der Augustin insofern, als es dort auch darum geht, individuelles Elend in Gesellschaftskritik und politische Forderungen zu verwandeln. Die Politik, die der Augustin betreibt, ist allerdings fern aller Parteiprogramme, stattdessen hat sie sehr viel mit den einzelnen Menschen zu tun. „Ich komm aus einer Bewegung, die viel gefordert hat vom Staat, wo sozusagen eine etatistische Politik im Vordergrund stand. Wir vom Augustin verzichten nicht auf politische Forderungen, wie z. B. Freifahrt für Obdachlose oder Verbesserung der Lebensbedingungen für AsylwerberInnen. Wir benutzen auch die politische Sprache und gängige politische Mittel wie Demos oder Flugblätter, aber dann wiederum lassen wir den Staat Staat sein und schauen, dass sich die Menschen besser vertragen. Wir bemühen uns, ein Klima zu erzeugen, wo die Schwächsten nicht als Sündenböcke herhalten müssen“, umreißt Sommer ein Ziel des Augustin.

Ein guter Journalist bekämpft den Journalismus

„Das Unspektakuläre ist überhaupt kein Thema im Mainstream-Journalismus“, kritisiert er. Der Journalismus ist die Stimme der Stummen, die moderne Entsprechung der ethischen Piraterie, der Atem der Rebellion der Sklaven, schreibt Paco Ignacio Taibo II in einem seiner Romane. Was ist guter Journalismus für Robert Sommer? „Ein guter Journalist zerstört den Journalismus. Man muss den Journalismus genauso bekämpfen, wie jeden Ismus. Ich bin dafür, dass man Sätze schreibt, die relevant sind, die die Wirklichkeit zeigen, die Machtverhältnisse in Frage stellen. Mit der Kategorie des ,journalistischen Textes‘ kann ich nicht mehr viel anfangen. Ich hab diese journalistischen Regeln ja mitgekriegt, in meiner Zeit als Tageszeitungsredakteur, Regeln wie Objektivität, das Verbot, Nachrichten und Meinungen zu vermischen. Im Augustin passiert das aber ständig. Ein journalistischer Text kann dort gleichzeitig ein literarischer Text sein, ein Kommentar kann gleichzeitig eine Nachricht sein. Da gibt es diese Vermischung der Kategorien und eine Hinterfragung der journalistischen Ordnung der Dinge. Der Journalismus ist z. B. dafür verantwortlich, dass wir ein total verzerrtes Afrikabild haben, als ein Kontinent, wo es nur Hunger, Krieg und Katastrophen gibt. Die Frage ist auch, wer oder was kriegt Aufmerksamkeit und wer oder was nicht? Ich bin der Meinung, Sätze sollen auch dann geschrieben werden, wenn sie von keinen Sensationen berichten und nicht verdorben sind durch diese Einteilung.“ In diesem Sinn sieht sich Sommer, der übrigens derzeit an der Fertigstellung seines Buches arbeitet, mehr als „Sätzeschreiber“ denn als Journalist.

Zur „Globalisierung“ des Augustin

An Mitarbeitswilligen mangelt es dem Augustin nicht, schließlich gibt es jede Menge Leute, die aus diesem Hamsterrad von Leistung, Stress und Jagd nach Geld raus wollen und ebenso viele, die schon – mehr oder weniger lange – draußen sind. Die Zahl der angebotenen Artikel würde mühelos für eine wöchentliche und nicht nur für eine 14-tägige Ausgabe reichen. Die unverwechselbare Mischung, die den Augustin ausmacht, besteht u. a. auch darin, dass sich dort Texte von Obdachlosen, Leuten aus dem Häfen, AsylwerberInnen, arbeitslosen AkademikerInnen, KünstlerInnen, professionellen JournalistInnen und ExpertInnern aus dem Sozialbereich in egalitärer Weise nebeneinander wiederfinden. „Meine Aufgabe seh ich darin, den Leuten Mut zu machen zum Schreiben“, sagt Sommer. „Ich erkenn selber keine journalistischen Regeln an und lass daher auch bei anderen sehr viel gelten, auch Texte, die sehr unbeholfen sind.“ Es kommt ihm darauf an, dass diejenigen zum Schreiben ermutigt werden, die sonst nicht gehört werden, weil sie sich nicht so gut ausdrücken können.

Mit einer monatlichen Auflage von derzeit 70.000 liegt der Augustin noch vor der größten deutschen Straßenzeitung, der Hamburger „Hinz und Kunzt“ und ist damit vermutlich die auflagenstärkste Straßenzeitung im deutschsprachigen Raum.

Dass das so ist und sein kann, ist dem ausgedehnten Netz von StraßenverkäuferInnen zu verdanken. „Da hat sich“, so Robert Sommer rückblickend, „in den letzten zehn Jahren am meisten getan. Wir haben im Vergleich zu anderen Straßenzeitungen in Deutschland, der Schweiz oder auch in Osteuropa einen relativ hohen Anteil von AsylwerberInnen im Augustin-Verkauf. Das hat sich auch auf die Zeitung ausgewirkt. Es hat das Image des Augustin als eine Obdachlosenzeitung verändert.“ Ein Drittel der VerkäuferInnen sind AfrikanerInnen. Diese Entwicklung als Ausdruck von Globalisierung als einem Zusammenrücken der Welt führte zu einem Blick über den eigenen Tellerrand. Antirassismus im Augustin wurde mit den schwarzen VerkäuferInnen zu einem wichtigen Thema. Teile der LeserInnenschaft akzeptierten diese neue Buntheit nicht, wollten sie mit dem Augustin doch vor allem die „eigenen Armen“ unterstützt sehen. Doch der Augustin ist kein Integrationsprojekt nur für WienerInnen, sondern eines für alle Menschen, die in Wien leben, egal woher sie kommen.

„Ich fühl mich sehr privilegiert, beim Augustin zu arbeiten“, sagt Robert Sommer abschließend und streicht sich mit einer leicht zitternden Hand die Haare aus der Stirn. Seit einiger Zeit weiß er, dass er Parkinson hat. „Es ist das, was ich auch dann machen würd‘, wenn ich nix bezahlt kriegen würd‘. Das ist die Verwirklichung einer Utopie. Wer für eine gerechtere Gesellschaft eintritt, scheitert, wenn diese Utopie nicht im eigenen Leben zumindest teilweise vorweggenommen wird. Zu dieser Utopie gehört, dass die Trennung zwischen Arbeit und Leben aufgehoben wird. Ich weiß nicht, ob die Verwirklichung dieser Möglichkeit im ,Augustin‘ eine Errungenschaft von mir ist, oder ob es ein glücklicher Zufall ist.“ Nämlich der, vor 10 Jahren zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten am richtigen Ort gewesen zu sein.

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