Selbsthilfegruppe „Adoption“tun & lassen

Das Stigma der Rabenmütter

„Mein Name ist Friederike. Ich bin 44 Jahre alt. Als meine Tochter Irene zwei Jahre alt war, mußte ich sie zur Adoption freigeben. Ich konnte nicht mehr richtig für sie sorgen. Das ist jetzt 17 Jahre her. 17 Jahre darüber nicht reden können. 17 Jahre Selbstzensur. 17 Jahre mit dem Gedanken zu leben, du hast versagt.“So beginnt der Text des Folders der Selbsthilfegruppe „Adoption“. Diese Selbsthilfegruppe wurde auf Anregung zweier Mütter, die ihre Kinder zur Adoption freigeben mußten, im Jahr 1998 gegründet. Geprägt von jahrelanger Verdrängung und Sehnsucht nach dem eigenen Kind, beschlossen beide Frauen, vor allem leiblichen Müttern zur Verfügung zu stehen.

Sind aber Frauen, die ihre Kinder „weggeben“, „im Stich lassen“, nicht Rabenmütter? Sind sie somit nicht selbst schuld an ihrer Situation? Gebührt ihnen nicht ein Leben voll Schuldgefühle?

In der Tat werden Mütter, die versagen, sich verweigern, aufgeben oder einfach nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern, mit unserem strengsten und sehr irrationalen Tadel belegt. Männer dürfen mit einem Achselzucken „ausziehen“, aber eine Frau, die geht, „läßt ihre Familie im Stich“ und hat es in unseren Augen verdient, daß man ihr die Tür vor der Nase zuschlägt.

In diese Kerbe schlagen die meisten Werke von Literatur und Film. Romane wie East Lynne, Hauptmann Sorell und sein Sohn oder Anna Karenina oder Filme wie Kramer gegen Kramer, Silkwood und Drei Männer und ein Baby zeigen die Männer als Helden, als „Über-Mütter“. Vor allem der Film Kramer gegen Kramer, 1970 entstanden, beweist sich als eine Art Gegenschlag zum Feminismus. In einer pointierten Kritik im Observer schreibt Sally Vincent: „Nur ein Mann kann seine Familie verlassen und dennoch Gnade finden. Wenn eine Frau dasselbe tut, werden alle ihre Liebe und Sehnsucht totgeschwiegen. Der Vater dagegen darf seine Liebe und Sehnsucht, untermalt von Purcells Trompetenkonzert und anderen heroischen Tönen, zum Ausdruck bringen. Denn so unerhört ist die Schuld der Frau und so rührend die Unschuld des Mannes, daß sie die besten Karten haben kann und trotzdem verliert, während er auch mit den schlechtesten immer gewinnt.“

Dabei ist die „gute“ Mutter eine Erfindung der Moderne. Vor der Existenz der Kernfamilie gab es den Zusammenhalt der Großfamilie und gemeinschaftliche Formen der Kinderbetreuung. Frauen konnten ihre Kinder längere Zeit unter der Obhut anderer Frauen lassen, ohne Repressalien ausgesetzt zu sein. Erst durch den wirtschaftlichen Wandel der industriellen Revolution wurden Frauen von Produzentinnen zu Konsumentinnen, und eine Neudefinition des Frauenbilds und der Frauenrolle konnte greifen.

Wie es Müttern ergeht, die sich von ihren Kindern trennen – und an dieser Stelle wird das Thema auf die Freigabe zur Adoption zentriert – ist auch heute noch kaum von allgemeinem Interesse. Untersuchungen beleuchten die Situation des Kindes und eventuell der zukünftigen Adoptiveltern, aber nicht die der abgebenden Mütter.

Die Ursachen, warum Mütter diesen Schritt setzen, sind vielfältig: Armut, Mißhandlung, behinderte oder Problemkinder, veränderte Lebenssituationen oder Ehebruch (von beiden Seiten!). Es ist nie ein einzelner Grund, der eine Mutter veranlaßt zu gehen, sondern es handelt sich stets um das komplexe Ineinandergreifen von inneren und äußeren Faktoren.

Nicht nur, daß es durch diesen Schritt zu einer enormen seelischen Belastung und Verdrängungseffekten kommt, werden die Frauen als Rabenmütter stigmatisiert, und in der eigenen Familie bleibt die Freigabe zur Adoption ein Tabuthema.

Trotz der Verdrängung können jedoch die abwesenden Kinder Frauen sogar noch mehr beschäftigen als die anwesenden. Manchmal geht die Wunde so tief, daß sie von den Kindern, die sie verloren oder zurückgelassen haben, geradezu besessen sind – die Bindung geht so tief, daß man sich keinen Augenblick davon freimachen kann.

Die Ziele die sich die österreichischen Selbsthilfegruppe „Adoption“ gesetzt hat, setzen hier an: durch intensive Aussprache über persönliche Probleme können die Teilnehmerinnen (Frauen, die schon abgegeben haben und solche, die vor der Entscheidung stehen) sich selbst und anderen bei der Bewältigung ihres Problems helfen, Mut machen und versuchen, eine Lösungsmöglichkeit zu finden. Darüberhinaus kann die Hilfe einer Psychotherapeutin in Anspruch genommen werden, um die eigene Entscheidung aufzuarbeiten, zu akzeptieren und abzuschließen. Außerdem gibt es auf Wunsch Begleitung der „suchenden Mütter“ auf Amtswegen. Die Inanspruchnahme der Selbsthilfegruppe ist anonym und kostenlos.

Friederike ist es vor allem ein Anliegen, das Selbstbewußtsein der betroffenen Frauen zu stärken und das Recht auf Information hervorzuheben. Sie tritt für eine offene Adoption – das Kind hat hier Kontakt mit der leiblichen Mutter – ein, aber selbst wenn dies (z. B. bei problematischen Herkunftseltern) nicht möglich ist, ist es für sie „ein Grundrecht, über das Aufwachsen und die Situation des leiblichen Kindes informiert zu werden“.

Die Situation hat sich hier bereits verbessert. Den Müttern werden Fotos und Informationen zur Verfügung gestellt – wenn sie sie einfordern. Von einer offenen Adoption wird man trotzdem kaum hören. Auch wenn die Adoptiveltern Verständnis für die Situation der abgebenden Mutter zeigen, überwiegt doch in den meisten Fällen der Wunsch, keine Konkurrenzsituation entstehen zu lassen und „das Kind ganz für sich zu haben“.

Spätestens in der Pubertät aber schreiben die Kinder alle schlechten Eigenschaften, die sich an sich entdecken, den unbekannten leiblichen Eltern zu – es kommt zu Angst und Zerrissenheit und zur Hoffnung, durch den Kontakt mit den leiblichen Eltern sich selbst besser verstehen zu können. Eine offene Adoption ist zwar ein schwieriger, aber sinnvoller Weg, um dem Kind Ängste zu nehmen und der leiblichen Mutter den Kontakt zu ihrem Kind zu ermöglichen.

Auch Friederike hat mittlerweile wieder Kontakt mit ihrer Tochter, den sie als wunderbar empfindet.


Verwendete Literatur, zum Schmökern geeignet: Rosie Jackson: Mütter, die ihre Kinder verlassen – alles Rabenmütter? Europaverlag, Wien, 1995.

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