»Sga« oder die Lektion der Banlieustun & lassen

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Ich richte mich an meine Brüder, die am Existenzminimum leben / Wir dürfen uns nicht weiterentwickeln, weil wir schwarz sind / Du verstehst, dass mein Hass vom Schmerz genährt wird. So rapt Hip-Hopper Monsieur R. auf seinem neuen Album Politiquement Incorrect.

Eine Jugend, die sich um ihre Zukunft bedroht weiß, als minderwertig und als überflüssige Unterschicht gehandelt wird, kaum Jobs kriegt, auch wenn sie eine Ausbildung hat. Wenn ganze Bevölkerungsgruppen über zwei, drei Generationen keine sozialen Aufstiegschancen bekommen, sie sich räumlich und über bestimmte Merkmale wie Herkunft, Religion oder Kultur zu definieren beginnen; und wenn die Kinder dieselben Jobs und dieselben miesen Einkommen haben wie ihre Eltern, und wenn die Kinder der Kinder merken, dass sie dieselben Jobs und dieselben miesen Einkommen wie ihre Großeltern haben werden. Immer dann braucht es nur einen Funken kollektiver Kränkung und es brennt. Um 1900 gab es Jugendkrawalle in den Vorstädten von Wien infolge von Brotpreiserhöhungen. Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren zertrümmerten Gaslaternen in Hernals und Ottakring, drangen in Schulen ein und lieferten sich Straßenkämpfe mit der Polizei. 1967 brachen schwere »riots« schwarzer Jugendlicher in den USA los, in Los Angeles eskalierte in den 90er Jahren tagelang die Situation nach dem Freispruch zweier Polizisten, die bei einer Verkehrskontrolle einen Schwarzen niederschlugen.

Es gibt eine doppelte Grenze. Die erste ist an der Staatsgrenze, an den bewachten Posten der Festung Europa, die zweite Grenze aber geht mitten durch das Land. Sie bahnt sich den Weg durch Kindergärten, Schulen, Städte und Zeitungen. Es gibt ein doppeltes Drinnen und Draußen. Die einen kommen gar nicht hinein, die anderen sind drinnen, kommen dort aber nie an. Eine neue Gruppe von »Überflüssigen« ist entstanden, man braucht sie nicht einmal als billige und willige Arbeitskräfte. »Ich habe mein Leben in den Abfalleimern begonnen«, rapt Akhenaton aus Marseille.

Es geht offensichtlich um Selbstvergewisserung. Die Überflüssigen sagen: Wir existieren. Es gibt uns. Die Jugendlichen in Paris, meist zwischen 12 und 16 Jahre alt, sprechen selbst von »Sga«. Das bedeutet »Aufschrei« auf Arabisch.

Warum revoltieren die Jugendlichen nicht in Polen, wo es auch so hohe Arbeitslosigkeit gibt? Weil es eben immer um relative Ungleichheit geht, um relative Lebenslagen, um den Vergleich, um Ausschluss, um Kränkung. Armut im Reichtum, Diskriminierung in postulierter Gleichheit, abhängige Herkunft bei versprochener Zukunft.

Sind die Jugendlichen denn nicht verantwortlich für die Gewalt? Sicher sind sie das. Sie zerstören Autos, Kindergärten und Schulen, die ihre Nachbarn brauchen. Die Unruhen werden sich gegen sie selbst richten, wenn nicht die »brennenden« Probleme bürgerrechtlich aufgegriffen werden. Die Republik ist der Feind; solange sie das für Tausende in den Pariser Vorstädten real bleibt, kann sie auch nicht zur Trägerin sozialer Rechte, von Aufstiegschancen, von sozialem Ausgleich werden. Dann hätte aus Sga niemand gelernt.

Martin Schenk

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