Rapperin Esra: «Kunst ist Freiheit, sagt meine Mutter»
Junge Erdo?an-Fans aus Wien, die nach dem Militärdienst ihre Meinungen ändern, ein Arabeske-Sänger, der Jugendliche auf der Straße als sein Volk bezeichnet, und eine Familie, die ihren Kindern die künstlerische Freiheit lässt.
Wie schätzt ihr den Aufruhr in Istanbul ein, um den Taksim-Platz und den Gezi-Park als öffentliche Plätze zu behalten?
Esra: Mich interessiert der Gezi-Park sehr, denn in Wien lebt eine große türkische Community mit schätzungsweise neunzig Prozent Erdo?an-Fans. In der Türkei funktionieren die Lichter jetzt besser als früher, es gibt sauberes Wasser und Straßen und Autobusse in die Dörfer, Radar auf den Straßen wie in Österreich. Es wird schon europäisiert. Das Volk sieht das, und es scheint so, als ob das alles Erdo?an gemacht hätte. Aber ich bin nicht der Meinung – wenn es dem Staat gut geht, dann machen wir das.
Im Gezi-Park gab es eine sehr friedliche Demonstration gegen das Abschlagen der Bäume und dann enorme Polizeiübergriffe. Und hier kommt unsere Meinung: Wenn ich für mein Volk bin, dann werde ich stopp sagen. Aber es kam kein Stopp von oben gegen die Polizeiübergriffe.
Was uns auch gestört hat, ist, dass sich die Religion permanent einmischt. Für einen gläubigen Menschen sollte Religion so wertvoll sein, dass man sie nicht in die Politik schickt. Weil niemand kann ein Führer für einen anderen sein. Auch in Religionen gibt es im Kern die Freiheit, nicht zu glauben. Es gibt Vorschriften, die du befolgen solltest, aber du musst nicht. In der Türkei sind 90 Prozent religiös, wenn man religiös in der Politik ist, hat man einfach mehr Stimmen.
Wie stehst du zur Religion?
Esra: In Österreich gibt es auch Religion, auch wenn man sagt, Österreich ist ungläubig. Hoffnung ist so ein Wort. Auf was hoffst du? Du hoffst nicht auf Gott, aber du hoffst, dass du die Prüfung schaffst. Auf was hast du jetzt gehofft? Hoffen, glauben – du hoffst auf irgendetwas, und das ist das Undefinierbare. Und das Undefinierbare ist schon der Glaube.
Auf der Bühne im Wiener Sigmund-Freud-Park hast du dich mit den Unzufriedenen in Istanbul solidarisiert.
Esra: Für mich ist Solidarität sehr wichtig. Wenn jemand kommt und Vorschriften und Strafen gibt, mit so etwas könnte ich nicht leben. In Wien braucht man aber mehr Verständnis für die Jugendlichen, die Erdo?an-Fans sind. Ich finde es falsch, wenn man sagt, Erdo?an-Fans, weg mit euch – die brauchen eine Aufklärung. In der Familie wird geredet, die Taksim-Leute, das sind Terroristen, die wollen alles bombadieren und unser Volk zerbrechen. Für die 15-Jährigen sind Heimat, Staat und Volk sehr wichtig. Ein 15-Jähriger wird sagen, dass er für sein Land sterben wird. Mit zwanzig sagt er dann (wegwerfende Geste): Wer ist mein Volk?
Mit zwanzig ist die übertriebene Heimatliebe dann vorbei?
Enes: Meine Freunde sagten immer Militär, Militär, Bundesheer, Bundesheer, und jetzt schreibt mir einer über Facebook, er ist jetzt drei Tage beim Militär: Enes, komm‘ nicht her (lacht), bitte nicht, bitte nicht.
In der Türkei sind es fünfzehn Monate und sehr hart. Ein anderer Freund übernahm zwanzig Stunden pro Tag Wachdienst und bekam die Krise, hat zwanzig Kilo abgenommen. Nach dem Militärdienst haben sie eine andere Meinung.
Esra: Ich höre von Schlägen und Handy-Wegnahme. Man sagt, im Militär wirst du ein richtiger Mann, und du fühlst dich wie ein Zwerg, Zwerg, Zwerg, und dann kommen die Neulinge, und du bist der King. Genau dieses brutale System finde ich falsch, dass du erst geschlagen wirst, anschließend wirst du in Ruhe gelassen, und dann darfst du schlagen. Du gehst mit neun Jahren deine Mutter abends abholen, weil sie Angst hat. Du musst Aufpasser sein, stark sein, nicht weinen. Dann bist du fünfzehn, und du hörst, die wollen die Türkei zerbrechen, und du regst dich auf und sagst: Wenn ich einmal beim Militär bin, werde ich kein Auge zudrücken.
Enes: Die Medien bringen das auch so rüber, dass der Türke am Boden ist, und dann schlagt und spuckt irgendein Terrorist auf ihn. Es ist einfach nicht so – ich bin mit Türken, Kurden, Jugos, multikulti alles, aufgewachsen.
Wie seid ihr so geworden?
Enes: Unsere Freiheit kommt von unserem Opa. Er ist ein religiöser Mensch und lebt im 16. Bezirk, in seiner Moschee. Es gibt Leute, die sagen, Rap ist Haram, aber er sagt, nein, wenn du keine Schimpfworte verwendest. Er war Schneider. Ab vierzig Jahren arbeitete er als Gastarbeiter in Deutschland bei Ford. Mein Vater kam mit neun.
Wie würdet ihr die dritte Generation der Einwanderer_innen beschreiben?
Esra: In der Hauptschule wirst du zu einer Lehre hin gefördert, niemand redet vom Gymnasium. Ich schon, denn mein Vater sagte immer: Sei einen Kopf größer als ich. Ich bin Bauspengler, bei Minusgraden, bei 50 Grad, Metall zieht die Hitze, das will ich nicht, dass ihr so arbeitet.
Wir hatten die Chance, Bildung zu genießen, für uns war Bildung nicht etwas, um hochzukommen, sondern um eine andere Welt kennenzulernen. Bei uns glaubt man, man kann nur studieren, wenn man gescheit ist. (lacht)
Was sind die Kriterien für Gescheitsein?
Enes: Talentiert, von Natur aus. Meine Schwester hat aber jetzt an der Kunstuniversität so viel gelernt, weil sie drin und aktiv ist. Bei uns gibt es ein Sprichwort: Wer weiß mehr, der, der liest, oder der, der reist? Meine ganze Familie sagt, Enes ist voll talentiert, er bringt seine Familie zum Lachen. Aber bei Mathematik muss ich bissl nachdenken, ist bei mir so.
Esra: Die dritte Generation sind keine Loser, aber mit 15, 16, da fehlt es. Ich war mit vierzehn Türken, sieben Serben und einem Österreicher in der Schule. Fünf gehen auf die Polytechnische und dreizehn sitzen alleine da: AMS. Zuhause ist Stress, die Eltern sagen, dem sein Sohn arbeitet, du arbeitest nicht, und du fühlst dich wie ein Zwerg und hast Ruhe und Frieden in den Parkanlagen. Bei den Männern gibt es viel Erwartung: Du musst einmal 1200 oder 1500 Euro verdienen, denn wie willst du eine Frau, Kinder und dich ernähren?
Enes: Man soll nicht arm sein. Meine Großmutter in Istanbul gab mir neulich hundert Euro für eine Uhr. Du hast keine Uhr? Ich lass‘ das sicher nicht sagen von einem Menschen! (lacht) Eine Uhr bedeutet Reichtum, du hast dir eine Uhr geleistet, du bist nicht arm.
Wie seht ihr Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz und sein Leistungsprinzip? Nur Aufenthalt oder Visum für die, die was leisten?
Esra: Die Definition ist falsch. Dann beginnt genau das Problem: Ich will kein Österreicher sein. Das ist der Punkt: Warum definiert ihr uns als Österreicher und nicht als Mensch? Wenn ich was leisten soll, um Österreicher zu sein, dann bleibe ich ein Türke.
Enes: Ich schwöre es dir, meine Heimat ist Österreich, weißt du, wie ich in der Türkei österreichische Scherze vermisst habe! (lacht) Aber wenn jemand fragt, wie fühlst du dich: als Türke. Wenn es um Leistung geht, warum wird mein Vater nicht als Österreicher behandelt? Er ist seit 34 Jahren sozialversichert, er repariert hier die Dächer als Bauspengler. Was muss man noch machen, um ein Österreicher zu sein?
Esra, von deiner Redeweise her sehe ich schon, warum du Rapperin bist, aber Enes, was hast du für einen Bezug zu Rap und Hip-Hop?
Enes: Wir hören immer orientalisch-iranische Musik. Sehr viel Leidenschaft und Trauer ist da drin. Es gab einen sehr berühmten Sänger, Müslüm Gürses (Müslüm Baba), er ist mit sechzig an Herzinfarkt gestorben. Bei seinen Konzerten haben sich besoffene Menschen angefangen zu ritzen. Er war voll dagegen, und er sagte: Bitte macht das nicht. Ich habe immer seine Lieder gehört, aber mich nicht geritzt. Ein Lied geht so: Ich will nicht mehr leben. Ich will nicht mehr da sein, weil ich keine Kraft mehr habe zum Leben. Im Spiegel sehe ich diese Leidenschaft in meinem Gesicht und leide dafür. Wo sind meine Freunde?
Er wurde schon mit dreißig als Müslüm Baba definiert, als Vater.
Esra: Er sprach die Jugendlichen auf der Straße an, die besoffen sind und viel draußen leben und keine Ruhe haben. Das waren seine Anhänger, die nannte er mein Volk, meine Leute. Ohne euch bin ich nichts! Menschen, die schon psychische Probleme haben. Er sagt: Auch wenn du einmal hinfällst, dann steh‘ wieder auf. Du wirst es schaffen.
Ein Widerständiger!
Enes: Die türkische Sprache ist sehr schön, sehr schwer zu übersetzen. Ich mag diese Musikrichtung sehr, Arabeske heißt das, mit Geige, Darbuka (Trommel) und Kanun (Zither). Esra fing zu rappen an, wir nahmen einen Arabeske-Hintergrund. Ich alleine würde nicht rappen, ich würde Arabeske singen. Esra begann, genau solche traurigen Gedichte zu schreiben.
Esra: Bei uns zu Hause kommen jeden Abend mein Vater, meine Mutter und Enes in mein Zimmer, und es wird eine Stunde Musik gehört. Arabeske zu singen ist schwierig, man muss Kraft zeigen, dafür habe ich die Stimme nicht. Beim Rap hat man viel Freiheit mit Schreien und Weinen; ich habe Rappen einmal mit dem Sich-durchs-Leben-Boxen verglichen. Meine Mutter machte in Istanbul die Matura und kam mit 24 Jahren nach Österreich. Sie gibt mir viel Freiheit, auch wenn sie Kopftuch trägt. Kunst ist Freiheit, sagt meine Mutter.