In Favoriten begegnen sich bei einem Sammelcontainer für Altkleider rumänische Jungs und eine Passantin. Es kommt zu einer nicht geplanten Übergabe.Zwei zappelnde dünne Bubenbeine, festgehalten von einem zweiten Burschen, schauen aus der Einwurfklappe des Containers vom „Grünen Kreuz“, der um Kleider-, Schuh- und Vorhangspenden für Bedürftige bittet.
„Kinder, was sucht ihr hier? Gold und Silber?“, frage ich lachend, weil die Szene sich so ungeheuer komisch ausnimmt. Gerade bin ich, es ist etwa neun Uhr abends und Spätherbst, in die schlecht beleuchtete Gasse eingebogen, in der ich wohne, sehr multikulturell wohne, vorbei an mehreren Mülltonnen, die neben dem um abgelegte Klamotten bittenden Container stehen. Der Oberkörper des kleinen „Diebes“ ist vollständig im großen grellgelben Kasten des Containers verschwunden, sein Helfer müht sich redlich ab, die wippenden Beine samt dem zugehörigen Körper im Gleichgewicht zu halten. Schließlich rutscht das gelenkige Bürschchen den Kasten herunter und schwingt, hastig atmend, an einem langarmigen Haken ein Paar noch recht passabel aussehende weiße Sportschuhe, die mit den Schuhbändern aneinander gebunden sind.
Ein junger Erwachsener, dem Alter nach schwer einzuschätzen, mit einem unbeschreiblich desolaten Gebiss, aus dem seitlich oben ein schwarzer Zahn hervorsticht, scheint Schmiere zu stehen. Mein rundlicher Matronenkörper, meine etwas vorgebeugte Haltung, mein gutmütiger, belustigter Ton scheinen ihm als Signal zu gelten, dass von mir keine Gefahr ausgeht.
Du lieber Himmel, denke ich, bei den Hilfsorganisationen häufen sich die Kleiderberge, jedes Pfarramt und genügend sozial denkende Menschen bauen Flohmärkte auf, bei denen Unmengen von den Dingen keine Käufer finden, die von diesen armen Kerlen begehrt, ja ersehnt werden und die sie glauben, aus unserer Wohlstands-Wegwerfkiste entwenden zu müssen.
Hungrige Gesichter sehe ich da, schmale Wangen, unruhige, verschreckte Augen, immer auf dem Sprung, immer weglaufbereit. Dem Aussehen nach noch Kinder, etwa im Alter von zweien meiner Enkel, dennoch ist nichts mehr an ihnen, das mich an deren Unbefangenheit, deren Lebendigkeit denken lässt. Und an ihr Vergnügen daran, von mir, der Oma, zuletzt doch noch ein teures Markenhemd erbettelt zu haben mit dem Argument, sie seien dem „Gruppenzwang“ unterworfen.
«Hör auf mit deinem tristen Sozial-Geheule»
Nun stehen sie da vor mir, die beiden etwa gleichaltrigen Buben, in armseliger Aufmachung, die hellen Jacken viel zu dünn. Dreizehn, vierzehn mögen sie sein, doch Not lässt bekanntlich jünger, schmächtiger erscheinen. Ich als ehemaliges Kriegskind und zudem noch als Kind einer Familie mit beschämender Bedürftigkeit, weiß, wie sehr Mangel, Frieren und Stummsein-Müssen den jungen Körper und seine Seele in eine enge Hülle einschweißen, die Wachstum, Aufblühen, Entfaltung einschränkt. Not beschädigt nicht nur den Körper. Der erwachsene Anführer? Er erscheint mir als ein früh Verkommener, weil nie im menschlich Zuträglichen angekommen. Als ein Abgeglittener, vom tiefen Fall bedroht, vergessen, verlassen, verelendet, verformt. Doch nicht nach Gewalt aussehend. Ein Gesicht, mehr breit als lang, als ob ein Schraubstock Kopf und Kinn zusammengepresst hätte. Hässlich.
Jetzt aber grinst er, und die Buben lachen recht fröhlich mit ihm über das Ergebnis ihrer Anglertätigkeit.
Sie lachen. Fröhlich? Vielleicht fröhlich wie meine Enkel? Ich werde unsicher.
Hör auf mit deinem tristen Sozial-Geheule, sagt darauf hin die Realistin in mir und gibt sich einen energischen Ruck.
Was aber tun?
Da ich annehme, dass sie wie die meisten unserer Bettler Rumänen sind, sage ich sehr deutlich: „Geht zur CARITAS!“, und erwarte, dass sie das lateinische Wort verstehen oder diese Einrichtung aus ihrer Heimat kennen. Sie plappern nach: „Caritas, Caritas“, blicken aber verständnislos. So schnell jedoch gebe ich nicht auf. Ich deute auf den gelben Kasten, bringe meine gesamte Fantasie auf und zeichne vor meinem Körper allerlei Kleidungsstücke in die Luft: Hose, Mantel, Haube, Schuhe, dann den Mantel auf: Schal, Jacke, Pullover. Von fern muss sich die gestikulierende Oma recht merkwürdig ausgenommen haben.
„Alles bei Caritas“, wiederhole ich. Meine schauspielerische Darbietung erhellt jedoch die Köpfe der drei nicht.
Daneben geht es blitzschnell durch meinen Kopf: Wo hat um diese Zeit noch eine Caritasstelle offen? Und wenn, nimmt man vielleicht die beiden Buben dort fest und liefert sie im nächsten Kinderheim der Stadt Wien ab?
„Romania?“, frage ich jetzt. Da nicken sie freudig, geben mir mein Wort als Echo zurück, und als ich auch noch ihre Sprache benennen kann und „Romanes“ sage, richtig betont auf der letzten Silbe, sehe ich ein Strahlen in den Augen des Anführers. Endlich ein Sprachband zwischen uns!
Der Große besitzt eine braune Roma Haut, die Buben erscheinen mir hell und bleich, was aber auch am spärlichen Licht liegen mag.
Nun suche ich wieder ihre Blicke, bediene mich erneut der Pantomime und stampfe sie, bildlich gesprochen, mit meinen Füßen und Fäusten in den Boden: „Hier stehen bleiben! Nicht mitgehen!! Ich hole Sachen.“ Dabei deute ich nochmals Kleiderformen an und zeige auf das Haus am Ende der Gasse. Ich tippe auf meine Brust, dann auf die des Hässlichen. „Ich für euch. Aber stehen bleiben!!“
Nun haben sie tatsächlich verstanden!
Hätte ich den Mut haben sollen, sie zu meinem Wohnhaus mitzunehmen? Oder gar in meine Wohnung?
Dort steht nämlich, das ist mir gerade in den Sinn gekommen, eine elegante Tragtasche, Aufschrift „Sir Anthony“, mit zwei gedrehten roten Kordeln als Trägerschnüre. Darin warten Hemden und Poloshirts erster Qualität, die dem Freund meiner Tochter zu eng geworden sind. Schließlich muss man einem pensionierten Ministerialrat (mein Jahrgang!) doch ein kleines Bäuchlein zubilligen! Die Reste einer ordentlichen Hausfrau in mir haben mich die Hemden, die sich so fein unter meinen Fingern anfühlen, sogar faltenfrei bügeln lassen.
Bestimmt waren sie für einen Freund von mir, einen begabten, aber ziemlich glücklosen, weil alle Protegés vergraulenden Maler. Obwohl seine Wohnung unter der Armutsgrenze angesiedelt ist, er und sein äußeres Bild auch, zeigt er für meine noblen Hemden wenig Begeisterung: „Ich bin so eigen in diesen Dingen “
Jetzt möchte ich sie also den jungen Grenzgängern aushändigen und gehe in Richtung meines Heimes. Als ich aber auf der gegenüberliegenden Gassenseite zwischen den Platanen den Braunhäutigen parallel zu mir schleichen sehe, drehe ich um und wiederhole ganz streng: „Da stehen bleiben!!!“ Dazu schüttle ich den Kopf und male mit bösem Blick etwas Durchgestrichenes in die Luft und wedle heftig mit der Rechten ein „Nichts“ dazu. Der Große kapiert. Nun mucksen sich alle drei nicht mehr und stehen wie festgewurzelt nebeneinander.
«Sie stehen da, wie ich sie verlassen habe»
Niemand kann von einer Frau meines Alters erwarten, dass ich schnell wiederkehre, wenn ich die ganze Gassenlänge hinaufgehen und mit dem Lift noch in den vierten Stock gelangen muss. Ich raffe noch schnell zwei Tafeln Schokolade und einige Schokoriegel zusammen (zwei weitere Tafeln sind leider angebrochen), fasse nach dem Kordelgriff und eile, so gut es mir möglich ist, zurück, in der festen Überzeugung, dass meine Romania-Burschen verschwunden seien.
Nicht zu fassen! Alle drei sehe ich wie aufgefädelt dastehen, und sie kommen mir auch keinen Schritt entgegen. Stehen da, wie ich sie verlassen habe. Oder tun sie nur so, weil sie mich schneller erblickt haben als ich sie? Wie auch immer: Ich bin also eine wirkliche Respektsperson! Ich, die sich so schwer tut, Anweisungen durchzusetzen, geschweige denn Befehle! (Ich weiß, ich weiß, es gibt auch eine andere Auslegung der Situation!)
Ich händige ihnen den Lohn für ihren Gehorsam aus, sie stopfen noch die Sportschuhe in die Tasche, und ich kassiere Strahlen, Dank und Freude. Ein leises Weh kann ich nicht bannen. Dann laufen sie fast blindlings quer über die Troststraße und verschwinden um die Ecke die Laxenburger Straße hinunter. Wo aber schlafen sie? Und wer sorgt für ihr Nachtmahl? Hätte ich ihnen Geld geben sollen? Oder fahren sie um diese Zeit noch nach Romania zurück? Und außerdem, so hört man sagen, wird einer kommen, der ihnen meine Gaben wieder entreißt. Soll er! Die Schokolade werden sie hoffentlich vorher aufgegessen haben.