Das Vermächtnis der Nein-Stimmen von 1938
80 Jahre «Anschluss». Erst vor drei Jahren habe ich viel Neues über die Geschichte von Lunz am See in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren. Erstmals etwa vom «Nein» des Lunzer Bürgers Wilhelm Mathes bei der «Volksabstimmung» über den «Anschluss» Österreichs an Hitler-Deutschland. Von Johann Bogenreiter.
Wilhelm Mathes entstammte einer adeligen Unternehmer- und Gutsbesitzerfamilie, die grundsätzlich nicht gegen den Nationalsozialismus in Erscheinung trat, nicht zuletzt auch zum Schutz von jüdischen Familienangehörigen. Boris Gorodetzky, dem Bruder von Polya, die als moldawische Jüdin in die Familie Kupelwieser eingeheiratet hatte, half dies nicht: Er wurde 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet. Wilhelm Mathes, dessen Mutter Paula der Familie Kupelwieser entstammte, lernte als Soldat eines Freikorps die Wurzeln des Nationalsozialismus, die auf Ausgrenzung, Kriegshetze und Verfolgung Andersdenkender und «Andersrassiger» beruhten, kennen. Er nahm dabei an der äußerst brutalen Niederschlagung der Räterepublik teil. Möglicherweise entwickelte sich daraus die spätere, tiefe Abneigung gegen die Nazis.
Bewusste Entscheidung.
Sein Neffe Hans Geißlhofer (Jahrgang 1950) erfuhr erst um die Jahrhundertwende (!) vom Widerstand seines Onkels gegen die Nazis: «Mein Onkel Willi war nach dem Krieg Fischereimeister im Schloss Seehof in Lunz am See, wo wir mit unserer Mutter immer die Ferien verbrachten und wir von ihm auf den drei Lunzer Seen oft zum Fischen mitgenommen wurden. Damit wurde er für mich und meinen Bruder zu unserem besonderen Lieblingsonkel. Damals wussten wir absolut nichts über seine antifaschistische Einstellung. Die Ereignisse aus der Nazizeit waren vollkommen tabu in der Familie. Über diese Zeit hat er nie gesprochen, und Traumata waren damals einfach kein Thema. Ich glaube übrigens, er hat den Kriegseinsatz als Schutz vor einer drohenden Deportation ins KZ empfunden. Der Leiter der biologischen Station in Lunz und Freund der Familie Kupelwieser hatte die ‹freiwillige› Einberufung noch vor Kriegsbeginn im Frühjahr 1938 über seine politischen Kontakte vermittelt. Ich erinnere mich aber daran, dass mein Onkel autoritäre Herrschaftsstrukturen generell zutiefst verabscheute.»
Im Buch Der Kältesee über die bewegte Geschichte der Familie Kupelwieser-Mathes-Wittgenstein in der NS-Zeit schildert der Neffe die sehr bewusst gesetzte Entscheidung seines Onkels: «Bei der Volksabstimmung stimmte er ganz offen und unverblümt mit ‹Nein› gegen den Anschluss. ‹Weißt du, so hat er’s ihnen hingeschmissen›, sagte meine Mutter und machte die lässige Handbewegung nach, mit der mein späterer Firmpate den Nazi-Wahlbeobachtern den Wahlzettel auf den Tisch geworfen hatte. Der Ton, in dem sie dies sagte, verriet ihre Ablehnung, so als wenn sie meinte: ‹Wieder so ein Spinner, wo er doch wissen hätte müssen, was ihm dafür blüht.› Als Strafe wurde er gleich darauf verhaftet, nach Scheibbs geführt und von der johlenden Menge mit dem Ruf ‹Auf nach Dachau› empfangen, bespuckt, geschlagen und mit faulen Eiern beworfen.»
Spucken, nicht schlagen.
Nach dem Krieg kam der Fall vor Gericht. Willi Mathes verteidigte dabei jedoch den angeklagten Gendarmen, der ihn damals zusammen mit dem nationalsozialistischen Gemeindearzt abgeführt hatte. Der Gendarm hätte ihn vor der Lynchjustiz bewahrt, weil er den Leuten zugerufen hatte: «Nur spucken, nicht schlagen!» Und der Titel des im März 2008 in den Niederösterreichischen Nachrichten erschienenen Artikels lautete: Sie riefen Verräter. Der Spießrutenlauf für Mathes war 1938 von den NS-Behörden organisiert worden. Wobei sich auch Parallelen zu einem Fall in Altaussee ergeben: Dort stimmte die damals 21-jährige Maria Haim als Einzige im Ort mit «Nein». In der Parteichronik der NSDAP wurde das wie folgt protokolliert: «Der 10. April ergibt eine 100-prozentige Abstimmungsbeteiligung. Eine der abgegebenen Stimmen im Hotel Berndl weist sage und schreibe ein ‹Nein› auf. Wie die Nachforschungen ergaben, wurde diese eine Neinstimme zum größten Verdruss der ganzen Gemeinde von einer schwachsinnigen Bauerndirne abgegeben, die damit in das schöne Abstimmungsergebnis einen nicht mehr gut zu machenden Schönheitsfehler brachte.»
An Grenzen gestoßen.
Der Autor Wolfgang Martin Roth hat über Maria Haim, die sich als Katholikin gegen den Aufruf der Bischöfe für ein «Ja» stellte, das Buch Die Neinstimme von Altaussee verfasst. Er ist bei den Recherchen über Maria Haim, die heuer 100 Jahre alt geworden wäre, schnell an Grenzen gestoßen. Sie hat nach dem Krieg sehr zurückgezogen gelebt. Maria Haim und Wilhelm Mathes, der 1977 verstarb, hatten ihre Entscheidung aus innerer Überzeugung getroffen und alle Widrigkeiten und Anfeindungen, mit denen sie konfrontiert wurden, in Kauf genommen.
Wolfgang Martin Roth:
Die Neinstimme von Altaussee
Sonderzahl 2018
48 Seiten, 14 Euro
Hans Geißlhofer:
Der Kältesee
United p.c 2015
272 Seiten, 19,90 Euro