Lokalmatadorin
Manuela Stricker besucht krebskranke Kinder zu Hause und muntert auch deren Eltern auf. Text: Uwe Mauch, Foto: Mario Lang
Der kleine Mann ist hart im Nehmen: Egal ob ihm seine Besucherin auf dem Sofa seines Wohnzimmers Blut abnimmt, seinen Katheter spült, das Pflaster wechselt, Chemotherapie-Tabletten zum Schlucken gibt – Azad strahlt die Frau, die ihm längst ans Herz gewachsen ist, ohne Unterbrechung an.
Nebenbei beobachtet der Dreieinhalbjährige mit einigem Interesse, wie die ebenso vertraute Biene Maja über den Bildschirm seines TV-Geräts summt.
Ein Jubiläum.
Manuela Stricker besucht den krebskranken Buben seit gut eineinhalb Jahren regelmäßig zu Hause in der Per-Albin-Hansson-Siedlung, bei Bedarf sogar zwei Mal pro Woche. Die diplomierte Kinderkrankenpflegerin arbeitet für den mobilen Dienst des Sankt-Anna-Kinderspitals, der heuer sein 25-jähriges Jubiläum feiert.
Kurze Rückblende an dieser Stelle: Vor einem Vierteljahrundert haben Eltern, deren Kinder im «Sankt Anna» behandelt wurden, einen Infusionsständer für das Spital gespendet. Das war der erste Schritt in Richtung professionelle häusliche Betreuung von krebskranken Kindern und deren Familien. Bis heute wird die Arbeit von Manuela Stricker und ihren mobilen Kolleg_innen durch Spenden ermöglicht. Die Spenden werden von der «Kinderkrebshilfe für Wien, Niederösterreich und Burgenland» lukriert.
In der Nebennierenrinde von Azad sitzt ein aggressiver Tumor. «Das wissen wir seit dem 26. März 2018», erzählt seine Mutter, sehr gefasst, um dann ganz schnell hinzuzufügen: «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass die Manuela zu uns in die Wohnung kommt. Sie schickt der Himmel.»
Die regelmäßigen Hausbesuche der Kinderkrankenpflegerin senken das gesundheitliche Risiko ihres Buben. Denn jedes Mal, wenn sie mit ihm das Haus verlassen muss, ruft das akute Gefahr für sein Immunsystem hervor. Überall in der Stadt, wo mehrere Menschen auf engstem Raum zusammenkommen, könnte er sich mit lebensbedrohlichen Keimen anstecken.
Es gibt Spitalbesuche, die lassen sich sowieso nicht vermeiden. Heute trifft es sich wieder einmal gut, dass die mobile Helferin die medizinische Versorgung aus ihrem großen roten Rucksack heraus leisten kann. Nebenbei kann die besorgte Mutter der Helferin ihr Herz ausschütten. Dabei wird schon mal geweint. Heute jedoch scherzen die beiden Frauen, als wären sie schon seit ewig Freundinnen. So intensiv, dass auch der kleine Azad lachen muss.
Persönliche Beziehungen.
Seit 23 Jahren arbeitet Manuela Stricker für das Sankt-Anna-Kinderspital. Bis zum Jahr 2011 war sie auf internen Stationen tätig, seither ist sie als Außendienstlerin unterwegs.
Dabei, gibt sie offen zu, hatte sie als Kind ihre heutige Tätigkeit nicht auf dem Zettel ihrer Wunschberufe vermerkt. Doch oft kommt es anders, als man denkt: «Meine Cousine hat mich auf die Idee gebracht, diesen Beruf zu erlernen.»
Ihre Arbeit, die ein wenig an die aufsuchende Sozialarbeit erinnert, weil sie ihrer Klientel regelmäßig entgegenkommt, sei eine emotionale Gratwanderung, sagt die Frau mit dem roten Rucksack auch. Anders als im Spital trägt sie bei ihren Hausbesuchen keine Dienstkleidung. Anders als im Spital kommt sie den Patient_innen und deren Angehörigen nicht nur räumlich näher: «Sie lassen mich in ihre Wohnungen. Über kurz oder lang entstehen da auch persönliche Beziehungen.»
Schön, wenn ein Kind vom Krebs geheilt werden kann. Was laut Statistik des Sankt-Anna-Kinderspitals heute immerhin bei 85 von 100 Kindern gelingt. «Die Quote war, als ich begonnen habe, beinahe umgekehrt», erzählt Frau Stricker.
Sie besucht aber nicht nur Kinder, die gerettet werden können. Sie begleitet auch jene, die als unheilbar gelten. Wobei diese Arbeit mit der Palliativmedizin für ältere Menschen nur bedingt vergleichbar ist: «Oft gelingt es uns, ihr Leben um Monate, manchmal sogar um Jahre zu verlängern.»
Ein Thema, das alle Mitarbeiter_innen des Kinderspitals beschäftigt, ist die Frage, wie nahe sie das Schicksal der Patient_innen und deren Familien an sich heranlassen sollen. Die Mutter von zwei Kindern sagt: «Empathie ist wichtig, aber nur so viel, dass ich meine Arbeit noch professionell erledigen kann. Denn nur dann kann ich helfen.»
Die Alarmglocken haben bei ihr zu läuten begonnen, als ihr ihre Tochter ins Gesicht gesagt hat: «Du verbringst mehr Zeit mit deinen Patient_innen als mit mir.» Inzwischen hat die Kinderkrankenpflegerin mit ihrer Familie eine für alle akzeptable Balance gefunden. Und Manuela Stricker kann beruhigt sagen: «Ich bin den Kindern und meinem Mann sehr dankbar für ihr Verständnis.»
Auch Azad, der tapfere Harry Potter von Favoriten, ist zufrieden mit ihrer Arbeit. Und über die Sticker, die sie ihm zum Abschied in die Hand drückt, freut er sich so, wie sich nur ein Kind freuen kann.
Mehr Infos über den gemeinnützigen Verein: www.kinderkrebshilfe.wien