Simmeringer Haide. Auf 400 Hektar lassen 160 bäuerliche Betriebe das Gemüse für Wien wachsen. Rentabler ist es aber, den Grund an Immobilienfirmen zu verkaufen, die mit der Umwidmung in Bauland viel Geld verdienen.
Text: Sónia Melo
Fotos: Lisa Bolyos
Das Thema ist in Simmering so etwas wie eine heilige Kuh: Landbesitzer_innen verkaufen ihre landwirtschaftlichen Nutzflächen an Immobilienfirmen und Bauträger, die mit deren Umwidmung in Bauland spekulieren. Die meisten Befragten geben zwar an, davon zu wissen, schweigen aber über Details.
Es mag ein Tabu sein, aber kein Gerücht. Im Grundbuch liegen schwarz auf weiß Kaufverträge als Beweis vor, im Übrigen genügt eine Online-Suche in Immobilienbörsen, um eine erwähnenswerte Menge an Ackerlandverkäufen im 11. Wiener Bezirk zu bestätigen. Darauf angesprochen wollen sich die Verkäufer_innen nicht äußern – auch nicht unter Wahrung der Anonymität. Ein Simmeringer Gemüsebauer, der zurzeit sein Ackerland über eine Online-Immobilienbörse zum Verkauf stellt, ist schon über die Kontaktaufnahme verärgert. Allein die Anfrage für ein Interview nimmt er bereits als Vorwurf wahr. Er möchte nicht darüber reden. «Was soll ich sonst machen? Warum glauben Sie, dass ich verkaufe?» Das kurze Telefonat endet mit einer rhetorischen Frage, die das Verkaufsmotiv offenbart: «Bei dem Produktpreis, wie soll ich davon leben, was schlagen Sie vor!?»
Gemüse für Wien.
Dass immer mehr Simmeringer Landwirt_innen vom Ackerbau nicht leben können, weiß Regina Jakubek aus eigener Erfahrung. Ihr Hof ist seit über 100 Jahren in Familienbesitz, vor siebzehn Jahren hat sie die Leitung der Gärtnerei von ihren Eltern übernommen. Auf zwei Hektar baut sie Gemüse und Obst an, Tomaten, Gurken, Paprika und Auberginen in Folienhäusern, die etwa ein Drittel der Fläche bedecken, und Obstbäume im Freien: Äpfel, Birnen, Zwetschken. Ihre Produkte verkauft sie wöchentlich am Naschmarkt und im Ab-Hof-Verkauf. «Der Handel würde mir 40 bis 60 Eurocent für ein Kilo Äpfel bezahlen, über den direkten Verkauf entfällt die Spanne des Handels, und ich erwirtschafte 2,50 Euro», erklärt sie. Trotzdem würden sie und ihre Familie nicht davon leben können, weshalb sie ein ehemaliges Glashaus in einen Veranstaltungsraum verwandelt hat und diesen für Kindergeburtstage vermietet. Zudem bietet sie «Schule am Bauernhof» an, ein Lehrgangprogramm für Kinder von drei bis zehn Jahren.
Die Gärtnerei Jakubek befindet sich auf der Simmeringer Haide, einer Landschaft im 11. Wiener Bezirk, die die Katastralgemeinden Simmering, Kaiserebersdorf und Albern umfasst. Auf einer Fläche von knapp 400 Hektar produzieren hier über 160 landwirtschaftliche Betriebe – hauptsächlich in Glashäusern und Folientunneln – Gemüse, Obst, Zierpflanzen, Schnittkräuter und Blumen. Für die Eigenversorgung der Stadt spielen die Simmeringer Haide und die großen landwirtschaftlichen Gebiete in Favoriten, Donaustadt, Döbling, Floridsdorf und Liesing eine bedeutende Rolle. Die 645 landwirtschaftlichen Gemüse-, Wein-, Acker- und Gartenbaubetriebe der Wiener Stadtlandwirtschaft versorgen Wien durch die Arbeitskraft der Bäuer_innen und mehrerer tausend Erntearbeiter_innen zu 30 Prozent. Etwa ein Drittel dieser Produkte wird auf der Simmeringer Haide angebaut. «In Simmering ist man sehr stolz darauf», erzählt ein Simmeringer Bezirkspolitiker, der anonym bleiben möchte. Daher sei der Verkauf von Ackerflächen an Immobilien-Spekulant_innen mit Scham verbunden: «Es ist so etwas wie Verrat», sagt er.
Wohnblöcke statt Glashäuser.
Gärtner und Bäuerinnen, die den Hof aufgeben und ihr Ackerland verkaufen, sind weder Verräter_innen noch von Gier getrieben, weiß Regina Jakubek. Vor etwa einem Jahrzehnt tat es ihre Nachbarin von gegenüber: Wo einst ein jahrhundertealter Ein-Hektar-Ackerbetrieb florierte, steht heute ein Wohnblock mit siebzehn Wohnungen. Die Gärtnerin war in die Jahre gekommen und konnte das Land nicht mehr bewirtschaften, keine der beiden Töchter übernahm den Hof, weil er nicht mehr rentabel war. «Eine Immobilienfirma hat sie kontaktiert und ihr 800.000 Euro dafür angeboten», erzählt Jakubek. Das sei kein Einzelfall. Rund um ihren Hof schossen in den letzten zwanzig Jahren Wohnblöcke wie Pilze aus dem Boden, zeigt sie – in diesen lebt nun ihre Stammkundschaft. Trotzdem stimmt sie das traurig: «Diese Leute, die in der Landwirtschaft aufgewachsen sind und ihr ganzes Leben diesen Boden bewirtschafteten, verschwinden, sie bleiben nicht hier, denn es tut so weh, den Hof aufgeben zu müssen. Sie ziehen weg, und du hörst nichts mehr von ihnen.» Viele, so Jakubek, bekämen für die Flächen das Fünffache des Marktwerts und könnten so ihre Schulden zurückzahlen.
«Das sind eben Bauern und Bäuerinnen, die es wirtschaftlich nicht mehr schaffen und/oder in Pension gehen und keine Nachfolge für den Hof haben», bestätigt der Simmeringer Jungbauer und Vorsitzender der SPÖ-Bauern Wien Christian Schmidt. «Es gäbe genug junge Leute, die Höfe übernehmen wollen, aber die Bedingungen sind so schlecht, dass sie sich das – verständlicherweise – nicht antun.» Auch wenn die regionale Landwirtschaft in den letzten zwei Jahren durch Corona mehr Wertschätzung erlebt hat, sei das nicht genug: «Während der Produktpreis seit fünfzehn Jahren stagniert, sind die Energiekosten um 150 Prozent gestiegen.» Die Energiekosten sind für die Simmeringer Bäuerinnen und Bauern, die zunehmend in beheizten Glashäusern anbauen, ein entscheidender Kostenfaktor. Nur so, meint Schmidt, können das ganze Jahr über hier die Gurken produziert werden, die fast ganz Österreich versorgen.
Grüner Grundverkehr.
Dass die Gemüseerzeugung auf den vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Flächen der Simmering Haide aus ökonomischen Gründen rückläufig ist, stellte der Agrarstrukturelle Entwicklungsplan (AgSTEP) schon im Jahr 2014 fest. Der AgSTEP ist ein vom Magistrat der Stadt Wien und der Wiener Landwirtschaftskammer erstellter Plan für die Entwicklung der Landwirtschaft innerhalb der Stadtgrenzen. Er ist Teil des Stadtentwicklungsplans STEP 2025 und grenzt die Gebiete ein, die der landwirtschaftlichen Nutzung vorbehalten sein sollen, um die langfristige Versorgung Wiens zu sichern. In dessen Rahmen wurde 2020 das Leitbild «Grünräume Wien» im Gemeinderat beschlossen. Das Gebiet der Simmeringer Haide, von dem im Entwicklungsplan bereits über die Hälfte als «Vorrangsgebiet Landwirtschaft» unter besonderem Schutz steht, wird im Leitbild zum größten Teil zusätzlich als «Grüne Reserve» gekennzeichnet. Das sind Grünräume, die langfristig erhalten bleiben sollen. Doch ein funktionierender Schutzmechanismus ist auch diese Kennzeichnung nicht. Das landwirtschaftliche Land kann sehr wohl zu Bauland umgewidmet werden, «wenn der zusätzliche Bedarf nachgewiesen wurde und der Gemeinderat entscheidet», so wird es im Leitbild definiert.
«Es sind Empfehlungen, politische Commitments, die jedoch rechtlich nicht bindend sind», sagt Viktor Schwabl, Lektor und Dissertant am Institut für Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung der Universität für Bodenkultur (BOKU). Eine weitere gesetzliche Regelung, die laut Schwabl für den Erhalt von landwirtschaftlichen Nutzflächen in Wien versagt, ist das Grundverkehrsgesetz: «Wien ist das einzige Bundesland in Österreich, in dem es keinen sogenannten Grünen Grundverkehr im Grundverkehrsgesetz gibt.» In allen anderen Bundesländern muss, wenn landwirtschaftliche Nutzfläche verkauft wird, geprüft werden, ob andere Landwirt_innen in der Umgebung Interesse haben, die Fläche zu bewirtschaften. Ist dies der Fall, kann nicht in Bauland umgewidmet werden.
Wie viel an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Simmering bereits in Bauland umgewidmet wurde, wird nicht erhoben. Einen Eindruck bekommt man mit einem Blick auf die Satellitendaten von Copernicus, dem Erdbeobachtungsprogramm der EU: Zwischen 2012 und 2018 wurden über 270 Hektar landwirtschaftlich genutzter Flächen in Wien in andere Nutzungsformen – hauptsächlich Bauland und Industriegebiet – überführt.
Neue Wege.
Dass viele Bauern und Bäuerinnen nicht mehr von ihrer Rund-um-die-Uhr-Arbeit leben können, weil der Produktpreis nicht einmal die Fixkosten deckt, ist für Regina Jakubek darin begründet, dass Konsument_innen zu schnell zu billigen spanischen Lebensmitteln im Supermarkt greifen; eine zu einfache Antwort für den BOKU-Wissenschaftler Viktor Schwabl: Für ihn liegt die Verantwortung gleichermaßen bei Produzent_innen, Handel, Konsument_innen und Politik. «Es ist wie in einem Getriebe, in dem ein Zahnrad ins andere greift. Bleibt eines stehen, dreht es sich nicht mehr.» Thomas Steinhart, SPÖ-Bezirksvorsteher in Simmering und selbst von einem Gemüsebetrieb, sieht gerade in Pandemiezeiten den Zusammenhang mit steigender Armut: «Die, die jeden Cent umdrehen müssen, greifen zu spanischen Paradeisern im Supermarkt, das ist verständlich.» Verständnis bringt Steinhart auch dafür auf, dass Simmeringer Bauern und Bäuerinnen ihr Land aufgeben: «Wenn ich mein Land nicht mehr bewirtschaften kann, muss ich andere Wege suchen.»
Der Landverkauf in Simmering ist nicht nur ein Tabu, er spaltet. Die Stadt wächst, die Stadtfläche ist begrenzt. 2027 soll Wien zwei Millionen Bewohner_innen haben. Dabei stellen sich für Viktor Schwabl zwei gleichermaßen dringliche Fragen: «Wo werden die Lebensmittel produziert, die den Hunger der Wiener_innen stillen sollen? Und wo sollen die Wiener_innen wohnen?» Eine dritte Frage schwingt mit, und sie zu tabuisieren wird sie nicht verschwinden lassen, nämlich jene des Verkäufers am Telefon: Unter welchen Bedingungen sollen die Wiener Landwirt_innen, die Wien zu 30 Prozent versorgen, (über)leben?
Ein Hoch auf die Hauptstraße!
Die Simmeringer Hauptstraße verband einst Carnuntum und Vindobona. Heute verbindet sie die Lebenden und die Toten. Gute Geschäfte ließen sich hier immer schon machen. Auch der Großvater der Autorin versuchte in den 60er-Jahren sein Glück.
Text & Fotos: Lisa Bolyos
Die Simmeringer Hauptstraße, diese stets ein bisserl zu wenig gewürdigte Prachtstraße, beginnt mit einer Brache. Erst nachdem sie sich unter der Südosttangente durchgeduckt hat, geht sie so richtig los. «Hier findet man alle wichtigen Wohntypologien, Industriebauten und Verkehrsbauten bis hin zu großen Stadterweiterungsgebieten der letzten Jahre», schreibt die Architektin Sabine Pollak in Das Andere der Stadt. Projektion Simmering, und sie übertreibt nicht: Der überformte Bauernhof steht neben dem 90er-Jahre-Geschoßwohnungsbau, auf der einen Seite ähnelt eine namenlose Gasse einem burgenländischen Hintausweg, auf der anderen braust Schwerverkehr Richtung Landstraßer Gürtel; hier der Salvador-Allende-Gemeindebau, dort drüben ein Schloss. Urbanes Flair kommt erst durch die Namen der Lokalitäten auf: etwa das Café Central, in der Nr. 50, wo die Wirtin frische Frühstückssemmeln und exzellenten Kaffee serviert. Es ist Mitte Jänner und eiskalt, zufällig der Tag vor dem hundertsten Geburtstag meines Großvaters, auf den ich hier mit seinem mittleren Sohn, meinem Vater, anstoße.
Simmeringer Supersol.
In der Simmeringer Hauptstraße 143, Ecke Dorfgasse (heute: Mautner-Markhof-Gasse) eröffnete im Jahr 1965 ein Gespann von drei Gesellschaftern in einem ehemaligen Bauernhof einen Supermarkt: Supersol sollte der heißen, ein einzelhändlerisches Versprechen. Einer war der Herr Eisenberger, einer der Herr Darvas, und der dritte war mein Großvater. Der war 1956 von einem geschäftlichen Wienaufenthalt aus Sicherheitsgründen nicht mehr nach Budapest zurückgekehrt, meine Großmutter sollte die sieben nächsten Jahre ihre drei Kinder alleine aufziehen, bis auch sie eine Möglichkeit fand, auszureisen.
1965, zur Geschäftseröffnung, waren aber bereits alle in Wien. Mein Großvater, der sein Geld zuvor damit verdiente, für einen gewissen Herrn Lanczmann Spielautomaten im Freibad in Mistelbach und im Gasthaus in Kaisersteinbruch zu montieren und dort auch regelmäßig abzukassieren, war auf der Suche nach «etwas Bodenständigerem». Herr Eisenberger, der Löwa und später PamPam gründete, hatte in direkter Nachbarschaft dieses Herrn Lanczmann damals bereits einen Selbstbedienungs-Supermarkt an der Rechten Wienzeile, in dem der älteste Sohn meines Großvaters tageweise jobbte. So oder so ähnlich geschah es, dass auch meinen Großvater die Lust packte, einen Supermarkt zu gründen (später sollten es fünf sein, noch später keiner mehr). Ein Glück, schienen zwei seiner Söhne als Teenies gerade alt genug, um nach flotter Beendigung der Pflichtschule ins Business inkorporiert zu werden. Gern oder nicht, das sei dahingestellt.
Ein Chevy und kein Schwechater.
Der 71er fuhr hier laut meinem Vater «immer schon» (verbrieft ist eine erste Fahrt im Februar 1907), und die Straßenbahntrasse, die etwa die Hälfte der Fahrbahn für sich beansprucht, hat ihren Anteil daran, dass der Autoverkehr nicht überhandnehmen kann. Mein Großvater fuhr den Weg von der Wohnung in der Sterngasse im 1. Bezirk (die mit ihrer Taubenzucht im obersten Stock eine andere Geschichte ist) allerdings am liebsten mit seinen immer herzeigbaren Autos – auf einem Foto des Supermarkts spiegelt sich in der Auslage ein weißer Chevrolet Corvette. Die Simmeringer Hauptstraße war damals noch mit Katzenbuckelpflaster belegt.
Ein paar Häuserblocks weiter, in der Nummer 152, versuchte ein anderer ungarischer Wahlwiener sein Glück mit einem Supermarkt. Herr Besnyöi mietete ein ehemaliges Gasthaus (das heute wieder als solches betrieben wird), allerdings machte er zwei kapitale Fehler – er verkaufte das falsche Bier und hatte seine Rechnung ohne den Pfarrer gemacht. Der soll mit einer Portion Zuwandererfeindlichkeit von der Kanzel der Pfarrkirche St. Laurenz gepredigt haben, dass dort nicht gesoffen werden darf, wo das Gösser das Schwechater aus dem Regal verdrängt. Die strenggläubige Kundschaft blieb fortan aus.
St. Laurenz ist ein guter Ort, um die architektonische Ungleichzeitigkeit der Simmeringer Hauptstraße zu spüren. Geht man durch die Kobelgasse auf die Kirche zu, will man sich beinahe ducken, so klein sind die Häuser. Wirft man dann einen Blick vom Kirchhof südwärts, braust die Stadt mit allem, was sie aufzubieten hat, vorbei. Bergab geht es direkt auf die Gartenbaugebiete der Kaiser-Ebersdorfer-Straße zu, auf der anderen Seite der Simmeringer Hauptstraße versteckt sich hinter einem eigentümlichen Ensemble das Wohngebiet Hasenleiten. 1915 als Kriegslazarett aufgestellt, dienten die Holzbaracken später als Wohnhäuser für verarmte Familien, unter den Nazis wurden zwangsdelogierte Juden und Jüdinnen untergebracht, für viele die letzte Wohnadresse. In den 1950er-Jahren wurde das ganze Areal abgerissen, heute stehen hier Gemeindebauten. Die Hasenleiten, erzählt mein Vater, hatte noch lange danach einen so schlechten Ruf, dass man sie auf der Suche nach Arbeit auf keinen Fall als Wohnadresse angeben wollte.
Der Elfte und seine Toten. Auf Grundstück Nummer 143 steht heute ein wenig charmanter dunkelgrauer Neubau mit viel Glas, das Gästehaus des Österreichischen Austauschdiensts OeAD. Im Erdgeschoß ein Storage-Angebot, ein Massage-Salon, ein Modegeschäft. Wo früher ein Schuppen war, der dem Supersol als Lager diente, ist heute eine Tiefgarage.
Obst, Gemüse und Haushaltsartikel aller Art waren hier verkauft worden, mit einem VW-Bus vom Naschmarkt und vom Großhandel Holzmann in Floridsdorf nach Simmering transportiert. Darunter auch Lilienporzellan, das dem Publikum, den Simmeringer Arbeiter_innen, den Esstisch verschönte. Simmeringer Arbeiterinnen waren auch die Supermarktangestellten, darunter Frau Erika, die Filialleiterin, oder Frau Trude, die sich ob ihres hohen Alters – sie war 1965 schon über vierzig! – noch daran erinnern konnte, als in den 20er-Jahren ungarische Schweinehirten ihre Herden die Hauptstraße stadteinwärts trieben, Gott hab sie selig, zum Schlachten nach Sankt Marx.
Ungarische Poststraße wurde die Simmeringer Hauptstraße vor 1894 genannt, viele Jahrhunderte, nachdem römische Bauarbeiter sie als Militärstraße angelegt hatten. Sie verband erst Carnuntum mit Vindobona, später (mit einer eigenen Städte-Straßenbahn versehen) Bratislava mit Wien, heute immerhin noch die Toten und die Lebenden. Der Zentralfriedhof wurde 1874 eröffnet. Hier liegt auch der 1967 sehr jung verunglückte Herr Darvas (auch er ein Freund schöner Autos) und schräg gegenüber Herr Lanczmann; gleich nebenan sagen wir noch dem Grab von Dr. Vergesslich einen guten Tag, dem Versicherungsmakler, der meinem Großvater mit ausladender Gestik die allererste Rechtsschutzversicherung seines Lebens verkauft haben soll. Einzig mein Großvater ist in seinem ungarischen Geburtsstädtchen zwischen Donau und Theiß begraben; kurz nach der Wende hat er seinen dreißigjährigen Zwischenstopp in Wien beendet.
Die Zentralfriedhofsbewohner_innen sind übrigens nicht die einzigen Toten an den Toren der Stadt: Unter der Csokorgasse, einer der letzten Seitengassen der Simmeringer Hauptstraße, liegt, wie durch Funde belegt ist, der größte Friedhof der Frühgeschichte Wiens – Awarengräber aus dem 7. und 8. Jahrhundert. Die Simmeringer Hauptstraße hingegen nimmt ihr Ende dort, wo die Donauländebahn Simmering von Kaiserebersdorf trennt (das gegen jahrzehntelangen Widerstand 1892 doch noch eingemeindet wurde). Hier hat der 71er schon längst das Handtuch geworfen und den Bussen, diesem rollenden Symbol der mittelmäßig angebundenen Stadtränder, die Bühne überlassen. Die Simmeringer Hauptstraße aber macht an ihrem eigenen Ende keinen Punkt, sondern einen U-Turn. Eine unendliche Geschichte! Und eigentlich eine nette Geste dieser größten aller Friedhofsstraßen.