Leistbares Wohnen versprechen Österreichs Parteien von links bis rechts. Am freien Wiener Immobilienmarkt hat es sich längst zur Ausnahme von der Regel entwickelt.
Text: Mareike Boysen
Illustration: Lisa Bolyos
«Die Lage ist einzigartig», stellt Hermann G.* nicht zum ersten Mal fest, nachdem er den gefliesten Balkon im vierten Stock betreten und seinen Blick über das Metallgeländer hinweg hat schweifen lassen. Rechts, im Westen, dominieren die weißen Dachstelen des Ernst-Happel-Stadions das Bild. Links, im Osten, erklärt der Immobilienmakler, hielten sich hinter einer Baumreihe Handelskai und Donauinsel versteckt. Dazwischen liegen elf orangefarbene Sand-Tennisplätze, die von der betreibenden Firma um 14 bis 17 Euro pro Stunde vermietet werden. «Sie können hier fast jeden Sport machen», sagt G., zumal die Wohnanlage selbst über einen Fitnessraum, einen Außenpool mit Sauna und einen großen Fahrradabstellraum verfüge.
Das Neubau-Areal im zweiten Wiener Gemeindebezirk, für das G.s Maklerbüro beauftragt worden ist, hat die Adresse Josef-Fritsch-Weg 1, 3, 5 erhalten und nennt sich Campus Lodge. Rechtzeitig zur Eröffnung des neuen WU-Geländes im Jahr 2013 hat die IG-Immobilien-Unternehmensgruppe, eine hundertprozentige Tochter der Österreichischen Nationalbank, den Komplex aus 111 Wohnungen und 36 möblierten City Apartments fertigstellen lassen. Für die freistehende Single-Wohnung im vierten Stock, die knapp 66 Quadratmeter auf einem tortenstückförmigen Grundriss verteilt, wird eine Warmmiete von 1.240,35 Euro fällig. Hinzu kommt die Maklerprovision von 1.281 Euro, außerdem ist eine Kaution von 7.442,10 Euro zu hinterlegen.
Insbesondere Student_innen, deren Eltern es sich leisten könnten, hätten sich hier eingemietet, erklärt G. Neben der Tiefgarage, für die eine Extragebühr verrechnet wird, steht daher auch ein Partykeller zur Verfügung. Dass die gemeinsame Waschküche mit zwei Geräten verhältnismäßig mager ausgestattet ist, scheint dem Umstand geschuldet, dass das hiesige Klientel daran gewöhnt ist, serviciert zu werden. Beim Concierge im Erdgeschoss können Reinigungs- und Montagedienste gebucht werden. Wer abenteuerlustig genug ist, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, erhält hier einen Einzelfahrschein. Gemeinsam mit einer 24-Stunden-Service-Hotline, mit Echtholzböden und Universallichtschaltern wird am Josef-Fritsch-Weg vor allem eines vermietet: Exklusivität.
15 % mehr Einkommen, 40 % mehr Miete.
Die Campus Lodge in der Leopoldstadt steht stellvertretend für einen freien Wohnungsmarkt, der durch rasant steigende Verkaufs- und Mietpreise immer größere Bevölkerungsgruppen von der Möglichkeit einer leistbaren und erträglichen Wohnsituation ausschließt. Während der Nettoeinkommens-Median der unselbstständig Beschäftigten in Wien, der 2018 bei 2.003 Euro lag, in den zehn Jahren zuvor um etwa 15 Prozent gestiegen ist, hat sich der durchschnittliche Mietpreis pro Quadratmeter (inkl. Betriebskosten) in der gleichen Zeit auf 8,26 Euro und damit um knapp 42 Prozent erhöht. Das bundesweite Mittel liegt bei 7,86 Euro und 38 Prozent.
Dass Durchschnittszahlen nur begrenzt Auskunft geben über Einzelschicksale, gilt speziell für den Wiener Wohnungsmarkt, der unter den österreichischen Ballungsräumen einen Sonderfall darstellt. Von insgesamt etwa einer Million Wohnungen entfallen 43 Prozent auf Gemeindebauten, Genossenschafts- und gemeinnützige Projekte, die also dem freien Markt und seinen Preisentwicklungen entzogen sind. Ein Drittel ist dem privaten Mietwohnungssektor zuzuordnen, wobei zwei Drittel der 55.000 jährlich neu abgeschlossenen Mietverträge privater Art sind. Die Höhe der Mieten, rechnete die Arbeiterkammer 2018 vor, überragt hier um durchschnittlich rund 41 Prozent jene im sozialen Wohnbau.
Öffentliche Aufwertung, privater Profit.
Dass überteuerte Mietangebote auf willhaben.at, immobilienscout24.at und in den Wohnforen von Standard und Kurier nicht müde werden, die Leopoldstadt als «Hip-Bezirk», als «urban» und «geschichtsträchtig» zu markieren, wundert Raphael Kiczka wenig. Der Sozialwissenschaftler und Wohnaktivist bezeichnet den zweiten Bezirk als Wiens Paradebeispiel für Gentrifizierung, also für einen Aufwertungsprozess am privaten Wohnungsmarkt, der zur Verdrängung sozial benachteiligter Haushalte führt. Insbesondere seit Beginn der Weltfinanzkrise 2007 und den damit einhergehenden erhöhten Privatinvestitionen in Immobilien seien in der Leopoldstadt viele Zinshäuser durch Firmen saniert und ausgebaut worden, erklärt Kiczka. Das sei einerseits mit der vom Stadtforscher Neil Smith formulierten rent-gap theory, dem Mietertragslückenkonzept, zu erklären. «In einem heruntergekommenen, ärmlichen Stadtteil lässt sich durch relativ geringe finanzielle Investitionen und anschließende Mieterhöhungen eine hohe Rendite erzielen», sagt Kiczka. Der zweite Bezirk habe sich dafür angeboten: Durch den Nordbahnhof, der bis ins 20. Jahrhundert den Ankunftsort von Siedler_innen aus Böhmen und Mähren darstellte, sei das Gebiet durch eine migrantische, proletarische Community geprägt worden. «Es gab viel Sexarbeit auf der Straße.» Andererseits hatte die planmäßige Aufwertung der Leopoldstadt durch die öffentliche Hand bereits begonnen: Ab 2004 etwa waren der Praterstern und die zugehörige Station umgestaltet worden, 2008 wurde anlässlich der Fußballeuropameisterschaft in Österreich der erste Teilabschnitt der U2-Verlängerung bis zum Ernst-Happel-Stadion eingeweiht. Während sich seit 2006 immer mehr Lokale am Donaukanalufer niederließen, verbot die Wiener Stadtregierung 2011 den Straßenstrich in Wohngebieten und 2018 den Alkoholkonsum am Praterstern.
Der Richtwertmietzins und seine Variablen.
Um die Attraktivität eines Standorts, die sich in steigenden Bodenpreisen niederschlägt, für Vermieter_innen profitabel zu machen, sieht eine Novelle des Österreichischen Mietrechtsgesetzes seit 1993 die Möglichkeit des Lagezuschlags vor. Diese gilt für Altbauten, also Mietshäuser, die vor 1945 errichtet wurden und die, im Gegensatz zu Neubauten, mit wenigen Ausnahmen dem Richtwertmietzins, Nachfolger des Kategoriemietzinses, unterstellt sind. Konkret bedeutet das: Für eine Altbaumietwohnung der Kategorie A in der Hammer-Purgstall-Gasse in der Leopoldstadt ist, wie in jedem anderen Wiener Gemeindebezirk, ein Richtwertmietzins von 5,81 Euro netto (6,39 Euro brutto) pro Quadratmeter vorgeschrieben. Außerdem sind Zu- bzw. Abschläge im niedrigen Prozentbereich für das Vorhandensein eines Lifts, einer Zentralheizung oder einer Gegensprechanlage bzw. das Nichtvorhandensein eines Kellerabteils oder eines vom Bad getrennten WCs vorgesehen. Hinzu kommt in der Hammer-Purgstall-Gasse, die nahe des Donaukanals liegt, ein Lagezuschlag von 3,63 Euro netto (3,99 Euro brutto) pro Quadratmeter. So zahlt derjenige, der hier 60 Quadratmeter anmietet, dafür mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens 800 Euro monatlich.
«Die Mietzinsbegrenzung bei Privatvermietungen greift in Wien also nur noch in denjenigen Lagen, in denen es keinen Lagezuschlag gibt», sagt Walter Rosifka, Wohnrechtsexperte der Wiener Arbeiterkammer. Während das bundesweit geltende Mietrechtsgesetz dafür keine Obergrenze vorsieht, veröffentlicht die Stadt Wien jährlich eine aktualisierte Lagezuschlagskarte. Seit 2017 orientiert sich diese nicht mehr allein an den gestiegenen Grundstückspreisen eines Gebiets, sondern zusätzlich an seiner infrastrukturellen Anbindung, an Grünflächen, ärztlicher Versorgung und Bildungseinrichtungen. Aktuell sind sechs Preisabstufungen vorgesehen, die 66 Cent pro Quadratmeter in Teilen einiger Randbezirke bis hin zu 12,21 Euro im gesamten ersten Bezirk empfehlen. Rechtlich verbindlich sind die Werte aufgrund des Mietrechtsgesetzes nicht.
Im oftmals fatalen Zusammenspiel von Bundes- und Landesgesetzgebung sieht Rosifka eine wichtige Ursache für den rasanten Anstieg der Mietpreise in Wien. «Von der Stadt wird erwartet, dass sie zum Beispiel am Reumannplatz aufwertende Maßnahmen setzt», sagt er. «Das Instrumentarium aber, mit dem sie den Mietpreissteigerungen in der Umgebung entgegenwirken könnte, fällt nicht unter das Landesrecht, sondern ist Bundesrecht.» Hinzu komme, dass die Wiener Regierungen auf das unvorhergesehene Bevölkerungswachstum seit den EU-Osterweiterungen 2004 und 2007 nicht mit ausreichend Gemeinde- und geförderten Bauten reagiert hätten. Zinshäuser, die im Zuge des Programms der «Sanften Stadterneuerung» seit 1985 mit Fördergeldern saniert worden sind, werden inzwischen, nach Ablauf einer fünfzehnjährigen Frist, in der den Besitzer_innen niedrige Mietpreise vorgeschrieben wurden, teuer vermietet oder weiterverkauft. Zuletzt ortet Rosifka eine gesellschaftliche Entwicklung, die durch die neoliberale Bundesgesetzgebung nur begünstigt worden sei: Unverhältnismäßige Profitinteressen im Immobiliensektor reichten inzwischen bis weit in die Mittelschicht hinein.
Kuschelig, herzig, befristet.
«Es ist alles inklusive», erklärt Katharina L.*, die im schwarzen Gewand mit Weltladen-Chic und auffälligen Ethno-Ohrringen durch eine 50 Quadratmeter große Wohnung in der Bernardgasse in Neubau führt. Ein relativer Begriff: Der siebte Bezirk weist mit über 40 Prozent einen der höchsten Altbauanteile im Wiener Stadtgebiet auf. Wobei Immobilienbesitzerin L. nicht einfach Altbauwohnungen, sondern «Businessapartments» vermietet, die das beauftragte Maklerbüro in Inseraten und Vorgesprächen mit den Attributen «herzig», «kuschelig» und «wirklich entzückend» versieht. Inkludiert im pauschalen Mietpreis sind Betriebskosten, Heizung und Warmwasser, außerdem die Nutzung der wahllos zusammengestellten Möbel, eine Internetversorgung und Putzdienste in Zwei-Wochen-Intervallen.
«Österreicher habe ich bislang kaum gehabt», sagt L., deren hauptsächliches Klientel Angestellte internationaler Firmen mit unregelmäßigen Geschäftsterminen in Wien sind. Für die relative Flexibilität, die eine Wohnung gegenüber Hotelaufenthalten bietet, zeigen sich diese zahlungswillig: Bei einer Befristung von ein bis drei Jahren verrechnet L. 1.100 Euro monatlich, bei kürzeren Aufenthalten werde es teurer. Zusätzlich steht eine Maklerprovision von 1.320 Euro an. «Unbefristet mache ich nicht», sagt L., die statt Mietverträgen sogenannte Nutzungsvereinbarungen aufsetzt. «Das hat für den Mieter nur Vorteile», bestätigt die anwesende Maklerin. Der gesetzlich vorgeschriebene Bruttomietzins ist während der Besichtigung nachvollziehbarerweise ein Tabuthema: Er liegt inklusive Betriebskosten bei maximal 409,34 Euro.
Gesetzesbruch ohne Konsequenz.
Vermieterin L. ist bei weitem nicht die Einzige, die das Mietrechtsgesetz durch undurchsichtige Vorgehensweisen zu umgehen versucht. Selbst für jene privaten Mietverträge, die sich auch als solche bezeichnen, schätzt Elke Hanel-Torsch, Vorsitzende der Mietervereinigung Wien, eine Mietrechtskonformität von weniger als 10 Prozent. Die wichtigste Ursache dafür, dass sich Vermieter_innen also bei neun von zehn Vertragsabschlüssen illegal zu bereichern versuchen, sieht Hanel-Torsch im Gesetz selbst. «Bei einem Gesetzesbruch gibt es keine Strafe», sagt sie. «Wenn ein Mieter sich gegen eine überhöhte Miete zur Wehr setzt, bekommt er den Überschreitungsbetrag samt Zinsen zurück. Das war es auch schon.»
Dass sich wiederum nur ein Bruchteil der benachteiligten Mieter_innen tatsächlich juristisch wehre, sei selten auf Uninformiertheit zurückzuführen, erklärt Hanel-Torsch. Viele Mieter_innen fürchteten vielmehr die Konsequenz. «In Österreich herrscht immer noch das, was ich die alte Hausherren-Mentalität nenne: Wenn ich mich wehre, schmeißt mich mein Vermieter hinaus.» Eine insofern nachvollziehbare Befürchtung, als zwei Drittel der neu abgeschlossenen Mietverträge im privaten Sektor inzwischen befristet sind. Für Mieter_innen, die den Zeitaufwand, die Kosten und die Unsicherheit eines Umzugs fürchten, bedeutet dies Erpressbarkeit. «Wenn ich einen Vertrag auf drei Jahre habe, zur Mietervereinigung gehe und mir Geld zurückhole, dann wird dieser Vertrag nicht verlängert», sagt Hanel-Torsch. Während die 25-prozentige Mietpreisminderung, die das Gesetz bei Befristungen vorsieht, von Vermieter_innen standardmäßig vergessen werde, sind Vertragsverlängerungen oftmals mit neuerlichen illegalen Preiserhöhungen verbunden. Schließlich zahlt das Mieter_innenklientel im Josef-Fritsch-Weg und in der Bernardgasse vielleicht deshalb, weil es kann. Die große Mehrheit der Wohnungssuchenden in Wien zahlt aus Not. Alles exklusive.
*Namen von der Redaktion geändert.
Zahle ich zu viel Miete?
Statistisch betrachtet lautet die Antwort: vermutlich. Im Einzelfall ist zu klären, ob ein Mietobjekt vollständig oder nur teilweise in den Anwendungsbereich des Mietrechtsgesetzes fällt. Daraus ergibt sich, betreffend die Höhe von Mietzinses und Betriebskosten, eine unterschiedliche Rechtelage.
Unter mein.wien.gv.at/meine-amtswege/richtwert lässt sich unkompliziert überprüfen, ob die eigene Mietwohnung dem Richtwertmietzins unterstellt ist und ob zusätzlich ein Lagezuschlag verlangt werden kann. Ein persönliches, ebenfalls kostenloses Service bietet die Mieterhilfe der Stadt Wien (mieterhilfe.at).
Wer juristisch firm genug ist, kann selbst einen Antrag auf Hauptmietzinsüberprüfung bei der Wiener Schlichtungsstelle einbringen, woraufhin ein Verfahren eröffnet wird. Allen anderen empfiehlt sich der Eintritt in eine gemeinnützige juristische Interessenvertretung wie die Mietervereinigung (mietervereinigung.at), den Mieterschutzverband (mieterschutzverband.at) oder die Mieter_innen-Initiative (mieterinnen.org). Anders als bei Prozessfinanzierern werden hier zwar jährliche Mitgliedsbeiträge erhoben, aber keine Provisionen einbehalten.
Wichtig ist: Für die Rückforderung überhöhter Mietzahlungen gilt bei unbefristeten Verträgen eine Frist von drei Jahren ab Abschluss der Mietzinsvereinbarung. Bei befristeten Verträgen endet diese sechs Monate nach Auflösung des Mietverhältnisses.