Lokalmatadorin
Jelena Deretic´ führt beim Kalvarienberg im 17. Bezirk eine gut sortierte Buchhandlung.
Text: Uwe Mauch, Foto: Mario Lang
Bücher auswählen, Bücher bestellen, Bücher entgegennehmen, anpreisen, in die Regale stellen, bewerben, empfehlen, verkaufen. Darüber hinaus: zwanzig Vertreter_innen von Verlagen im Frühjahr und im Herbst empfangen sowie zig Verlagsvorschauen im Frühjahr und im Herbst durchforsten.
«Zum Lesen komme ich eigentlich erst am Abend», verrät Jelena Deretić, während sie am letzten Öffnungstag vor der ersten Covid-19-Verordnung mit Neuerscheinungen hantiert. «Und da fallen mir oft schon nach drei, vier Buchseiten die Augen zu.»
Buchstäblich.
Doch die gelernte Buchhändlerin bemitleidet sich nicht. «Ganz im Gegenteil, ich liebe meinen Beruf.» Tagsüber werkt sie in der fein sortierten Buchhandlung «Bookpoint», nur wenige Schritte vom Elterleinplatz entfernt. Seit drei Jahren ist sie deren Inhaberin. Jelena Deretić führt damit buchstäblich eine 130-jährige Firmengeschichte im 17. Bezirk fort.
Sie hat die Liebe zum Beruf von ihrem Vorgänger geerbt. Erich Wolf war ein Buchhändler vom alten Schlag: «Belesen, weltoffen, gutmütig.» Sie war zuvor seine sehr ambitionierte Filialleiterin, hatte dabei von Anfang an ein Ziel vor Augen: «Schon bevor der Herr Wolf in Pension gegangen ist, hatte ich mit ihm ausgemacht, dass ich einmal das Geschäft von ihm übernehmen werde.»
Den meisten Kund_innen, die sie mit ihrem Namen begrüßen kann, ist dieser fliegende Wechsel nicht einmal aufgefallen: «Einige haben es bemerkt, weil jetzt auf dem Stempel ein neuer Name steht.»
Das Lesen hätte sie schon als Teenager fasziniert, erzählt die Buchhändlerin dann, während sie die neue Lieferung weiter bearbeitet. «Weil man beim Schmökern in Büchern so schön abschalten und in andere Welten eintauchen kann und dabei viel Neues erfährt.»
Sprichwörtlich.
Die Zeit als Teenager war nicht nur lustig, sagt Jelena Deretić dann. Sie könnte darüber ein Buch schreiben: Sie war erst zwölf Jahre alt, da kam ein sprichwörtlich blutiger Krieg auch in ihre Stadt. Überall gab es Berichte von Gefallenen, Toten, Ermordeten, dann schlugen Granaten ein.
«Nachbar in Not», wie man im März 1993 bei uns sagte: Unzählige Menschen mussten ihre Heimat verlassen – auch die zwölfjährige Jeli. Ihr letzter Schultag, das Packen der Koffer, das Verlassen der Wohnung, der Abschied von Familienangehörigen und Freund_innen, dann die Kleinstadt Trebinje und der südlichste Zipfel der Republika Srpska im Rückspiegel – das alles hat sie bis heute nicht vergessen.
«Und dann stand ich mit meiner Mutter und meinem älteren Bruder vor der Wohnung meiner Tante in Wien», erzählt die Zeitzeugin. Sie wohnten zunächst zu siebent auf weniger als 50 m2, und sie verstand am ersten Schultag in einer Hauptschule im 9. Bezirk nicht viel mehr als Bitte und Danke.
Doch Jelena Deretić ist eine von den vielen Stillen, die eine reiche Stadt noch reichhaltiger machen. Sie hat die Sprache der reichen Stadt über einen einzigen Sommer gelernt. Und sie kann heute mit ihrer Muttersprache Kund_innen helfen, die sich noch auf dem Weg zu einer gelungenen Integration befinden.
Unverständlich.
Ihr eigener Weg war wie gesagt kein Kinderspiel. Sie hat die Sprache schnell gelernt, konnte jedoch die Vorbehalte der Hiesigen gegenüber Neuankömmlingen nie verstehen. Die Buchhändlerin sagt ohne Wenn und Aber: «Dabei bin ich froh, dass ich die Erfahrung der Ankommenden gemacht habe, und nicht meine hier geborene Tochter.» Die viel zitierte Willkommenskultur habe sich in der reichen Stadt nicht unbedingt zu ihrem Besseren gewendet.
Wissen wirkt gegen Vorurteile: Ein Anliegen sind Jelena Deretić daher auch die Kinder. «Nicht alle», weiß die Tochter eines technischen Zeichners und einer Kellnerin aus den Gesprächen mit ihrer Kundschaft, «haben in ihrem Elternhaus die Möglichkeit, sich für das Lesen zu begeistern.»
Schön ist auch: Die Menschen im Grätzl am Fuße des Kalvarienbergs wissen ihre Arbeit und ihren unternehmerischen Mut zu schätzen. Ihre Firma gibt zwei Menschen Arbeit. Und der Bezirk musste sich bisher keine Sorgen machen, dass die traditionsreiche Buchhandlung von der Bildfläche verschwindet.
Jelena Deretić möchte dessen ungeachtet mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben: «Mein Ziel ist es weiterhin, im harten Wettbewerb mit den Ketten und vor allem mit den Online-Portalen nicht unterzugehen.» Die Reaktionen einiger neuer Kund_innen stimmen sie vorsichtig optimistisch: «Sie sagen, dass sie ihre Bücher bei mir genauso schnell bekommen.» Oben drauf gibt es von ihr immer eine persönliche Empfehlung – und dazu ein Lächeln.
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