Lokalmatadorin
Kineke Mulder bringt Menschen in Wien an einen Tisch. Ihr geliebtes Spiel hilft ihr dabei. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)
Sie rückt den weißen Bauer von e2 auf e4 vor. «Mein Lieblingszug, wenn ich beginne», verrät Kineke Mulder am Einser-Tisch im Ottakringer Café Ritter. «Er öffnet gleich zwei Diagonalen.» Bereits mit sechs Jahren hat die Tochter einer alleinerziehenden Ärztin aus Groningen das Schachspiel erlernt. Damals hat sie ein Freund ihrer Mutter nachhaltig beeindruckt: «Er war Notar und der erste Erwachsene, den ich gesehen habe, der sich seinen Leidenschaften voll hingeben konnte.»
Rauchen und Whiskey trinken ziemt sich für ein Kind nicht, Zeitung lesen war ihr noch nicht gegeben. Blieb also noch das Schachspiel. Sie lernte die Regeln in der Grundschule kennen, und seine Magie in einem Schachklub. Dort war sie als zwölfjährige Schülerin neben den durchwegs älteren Herrschaften eine Minderheit, die immerhin geduldet wurde. «Solange ich sie nicht matt gesetzt habe.»
Weitere Züge.
Mit dem weißen Rössel springt sie jetzt von g1 auf f3. Dann schickt sie einen anderen Bauer von d2 auf d4 vor, was bei ihrem Gegenüber in der Sekunde Stress erzeugt. An dieser Stelle müsste man nicht mehr viele Worte verlieren. Denn eine Besonderheit des Schachspiels ist ja, dass sein Regelwerk unausgesprochen weltweit gilt, und eine andere, dass wir uns in seinen 64 schwarzen und weißen Feldern jederzeit verlieren können, unabhängig von unserer Muttersprache und Herkunft, unserem Geschlecht und Einkommen.
Diesen einzigartigen Zauber hat Kineke Mulder, die ihr Brot seit dem Jahr 2003 als selbstständige Grafikdesignerin in Wien verdient, im Sommer 2015 so richtig durchschaut. In diesem Sommer kamen auf dem Wiener Hauptbahnhof mehr Menschen an als sonst, viele von weit her, aber nicht aus dem Urlaub und auch nicht mit dem Schnellzug. Der Train of Hope gab den völlig Erschöpften, die soeben ihre Heimat verloren hatten, zu essen und zu trinken, versorgte sie mit spontanen Willkommensgesten und bei Bedarf auch medizinisch.
Die gebürtige Holländerin war sich ihrer Sache nicht sicher, als sie damals mit einem Schachfreund und zwei Schachbrettern unterm Arm am Hauptbahnhof ankam: Würde sie die Ankommenden, denen nicht zum Lachen zumute war, mit ihrem Spielangebot am Ende sogar brüskieren?
Das Gegenteil war der Fall: «Kaum hatte ich die Bretter auf einem der Tische aufgeklappt und die Figuren aufgestellt, haben die Leute zu spielen begonnen», erinnert sich die Gründerin der privaten Initiative Chess unlimited noch heute staunend. Wie sehr Schach positive Energien aktivieren kann, beschreibt am besten folgende Beobachtung: «Da saß ein Vater komplett in das Spiel vertieft, vielleicht das erste Mal seit Wochen oder sogar Monaten ohne Sorgenfalten in seinem Gesicht, was offensichtlich auch auf seine Kinder beruhigend wirkte.»
Königsdisziplin.
Uijegerl, ihre weiße Dame wird jetzt gleich dem schwarzen König gefährlich nahe rücken. Wer Frau Mulder im Kaffeehaus herausfordert, muss damit rechnen, dasselbe Schicksal wie die holländischen Schachsenioren zu erleiden. Noch hat der König ein wenig Spielraum, und der Widersacher Zeit zum Ziehen. «Du spielst eh recht gut, aber du magst den anderen nicht matt setzen.» Hat einmal ein kleiner Großmeister zu ihr gesagt. Und wer weiß, ob ihm dabei bewusst war, wie gut er damit auch ihre Persönlichkeit beschrieben hat.
Noch schöner als das Spiel selbst ist nämlich für Kineke Mulder die Tatsache, dass sie mit den Schach-Begegnungszonen, die sie organisiert, ganz und gar unterschiedliche Menschen an einen Tisch bringt. Sie können in unaufgeregter Atmosphäre mehr Gemeinsames als Trennendes entdecken. Gegen diesen Zauber können sich übrigens auch die Wiener und Wienerinnen nur schwer wehren. Im Vorjahr hat die Kulturvermittlerin bei Park- und Straßenfesten, in Büchereien, Volkshochschulen, Kaffeehäusern und auf öffentlichen Plätzen für viel gute Stimmung gesorgt.
«Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich mithilfe des Schachspiels die Demokratie retten ließe», sagt sie nicht zum Spaß, viel mehr einen Zug voraus denkend. Denn beim Schach sind die, die immer einen Schuldigen benötigen, um von den eigenen Schwächen abzulenken, unter Zugzwang. Sie verlieren zuerst die kleinen Leute, in Form von Bauernopfern, am Ende auch ihren König.
Letztens habe ihr ein Elfjähriger für ihre Initiative gedankt. Erzählt Mulder. Ihm sei beim Spiel «mit richtigen Menschen» der Gedanke gekommen, dass das mehr Spaß macht, als wenn er daheim gegen den Computer antritt. Schach der Einsamkeit? Ist quer durch alle Generationen denkbar.
Und so wird Kineke Mulder auch in diesem Jahr durch Wien touren und im öffentlichen und halböffentlichen Raum ihre Schachbretter ausbreiten. Gut angenommen werden ihre Schach-Nachmittage in der Wiener Hauptbücherei. Übrigens sollte dieses Angebot Schule machen: «Mein Engagement dort wird angemessen honoriert.» Wer so viel für das friedliche Miteinander in einer reichen Stadt wie Wien investiert, sollte entsprechend bedankt werden. Nicht nur symbolisch.
Mehr über Mulders Schachangebote: www.chess.mulder.at