Sommerpaket gegen Sommerregentun & lassen

Wohnungslosigkeit in Wien

Nach dem Winterpaket braucht Wien ein Sommerpaket. Wenn offiziell die warme Jahreszeit beginnt, werden von einem Tag auf den anderen 900 Notschlafplätze gestrichen. Warum? Eine Suche nach Antworten von Markus Schauta (Text) und Klaus Pichler (Fotos).

«Wohin soll ich gehen?», der Mann im blauen Pullover spricht nur wenige Worte Deutsch. Dass das Notschlafquartier zusperrt, kann er nicht recht glauben: «Ich kann hier nicht bleiben?» «Nein.» «Aber es ist sehr kalt draußen, wo soll ich schlafen?»
Es ist die letzte Nacht im Notschlafquartier Apollogasse. Wenn das Winterpaket der Stadt Wien am 30. April endet, schließt auch die Anlaufstelle für Obdachlose in einem Pavillon des ehemaligen Sophienspitals ihre Pforten. Die knapp 125 Betten der Notschlafstelle nahe dem Westbahnhof waren den ganzen Winter über belegt. Jeden Tag ab 18 Uhr konnten die Männer ihre Zimmer beziehen, um 8 Uhr Früh mussten sie wieder raus. Dazwischen konnten sie duschen, ihre Kleidung waschen und trocknen und in den Aufenthaltsräumen Schach spielen oder fernsehen. «Diesen Winter gab es in Wien zum ersten Mal ausreichend Schlafplätze», sagt eine Mitarbeiterin der Notschlafstelle. «Niemand musste auf der Straße schlafen.» In die Apollogasse kamen vor allem Menschen aus Osteuropa, viele von ihnen sogenannte nicht-anspruchsberechtigte Personen. Das sind jene Personen, die aufgrund fehlender Versicherungs- und Meldezeiten keinen Anspruch auf Sozialhilfe und damit auf Unterbringung in den vom Fonds Soziales Wien (FSW) geförderten Einrichtungen haben.

Kein Recht auf Obdach.
Warum wird überhaupt zwischen Anspruchsberechtigten und Nicht-Berechtigten unterschieden? «Diese Unterscheidung ergibt sich aus der rechtlichen Situation und ist keine Erfindung der Wohnungslosenhilfe», sagt Kurt Gutlederer, Leiter der Wohnungslosenhilfe im FSW. Anspruch auf Wohnungslosenhilfe haben demnach nur Österreicher_innen und sogenannte Gleichgestellte. Gutlederer verweist auf geltendes EU-Recht, das die Freizügigkeit zunächst auf drei Monate beschränkt: So lange können sich EU-Bürger_innen ohne Bedingungen in einem anderen EU-Land aufhalten. Danach ist eine Anmeldebescheinigung notwendig, die nur erhält, wer in Österreich studiert oder arbeitet und über ausreichende Existenzmittel verfügt. Da viele der Obdachlosen jahrelang in undokumentierten Arbeitsverhältnissen ausgebeutet wurden, verfügen sie nicht über die notwendigen Papiere und befinden sich dem Gesetz nach illegal im Land. «In diesem Fall gibt es überhaupt keine Ansprüche auf Sozialhilfe», so Gutlederer. Laut Zahlen des Innenministeriums wurden im Jahr 2018 rund 2.100 EU-Bürger_innen aus Österreich abgeschoben. Die meisten von ihnen kamen aus der Slowakei, Ungarn und Rumänien.

Zu kalt für die Straße.
Andreas, kurzrasierte Haare und Bart, hockt am Bett in seinem Zimmer in der Apollogasse, das er sich mit zwei anderen teilt. Als österreichischer Staatsbürger zählt er zu den Anspruchsberechtigten. Er zieht einen zerknüllten Zettel aus seiner Kapuzenjacke, auf dem er sich die Adressen von Notschlafstellen notiert hat, die das ganze Jahr über geöffnet sind. Bisher hatte er kein Glück. «Alles besetzt», sagt er. Der 41-Jährige lebt seit zwei Jahren auf der Straße. «Wenn ich kein Bett bekomme, gehe ich in die Gruft, hol mir einen Schlafsack und schlafe im Park», sagt er. Fixe Plätze in der Stadt habe er keine. Schläft er draußen, müsse er vor allem auf die Sicherheit achten. «Wenn du aufwachst und jemand hat dir alle deine Sachen gestohlen, ist das nicht gut.» Nach Ende des Winterpakets sei die Nachfrage nach Notschlafplätzen groß, weiß Andreas. Dass das Winterpaket immer Ende April ausläuft, kann er nicht verstehen. «Das Wetter ist nicht jedes Jahr dasselbe, einmal ist es kalt, einmal warm.» Man könne die Leute doch nicht rauswerfen, wenn es draußen Minustemperaturen hat. Es braucht mehr Unterkünfte– das ganze Jahr über, ist Andreas überzeugt. «Ich muss jetzt telefonieren», sagt er und schaut wieder auf seinen Zettel, «ab morgen ist hier ja Schluss.»

Chancenhaus und Rückkehrberatung.

Seit 1. Mai steht der Pavillon in der Apollogasse leer. In ganz Wien gibt es mit Ende des Winterpakets 900 Schlafplätze weniger. Warum können die Notschlafstellen nicht das ganze Jahr über offen bleiben? Kurt Gutlederer vom FSW denkt, es sollen keine Personen dauerhaft gefördert werden, die sich nach EU-Recht nicht rechtmäßig in Wien aufhalten. Der Winter sei eine Ausnahme, «Das ist eine besondere Notsituation». Natürlich sei jemand, der obdachlos ist, auch im Sommer in einer Notsituation. «Aber die Gefährdung ist nicht dieselbe.» Wären die Notquartiere des Winterpakets auch im Sommer offen, wäre das eine Zementierung der Situation, ist Gutlederer überzeugt. Abgesehen davon gebe es auch außerhalb des Winterpakets Unterstützung für Nicht-Anspruchsberechtigte, die Vinzenzgemeinschaft biete an drei Standorten in Wien insgesamt 160 Schlafplätze an, in der Caritas Gruft und in den Caritas-Häusern Amadou und Frida erfolge keine Anspruchsprüfung. Haus Frida bietet speziell Unterkünfte für Frauen und Kinder an. Laut Auskunft der Gruft können Nicht-Anspruchsberechtigte aber nur bis zu fünf Tagen in der Notschlafstelle unterkommen. Eine sommerliche Alternative zum Winterpaket ist die Gruft daher nicht.
Der FSW setzt außerdem auf ein neues Angebot: In sogenannten Chancenhäusern sollen Obdachlose Unterkunft finden und mit Hilfe einer Sozial- und Rückkehrberatung ihre Perspektiven abklären. Diese Chancenhäuser stehen allen Obdachlosen offen, egal ob anspruchsberechtigt oder nicht. Bisher gibt es drei davon in Wien, ein viertes soll im Herbst eröffnet werden. «Chancenhäuser sind ein niederschwelliges Angebot», meint Gutlederer. «Sie sollen Unterkunft ermöglichen, ganz ohne Voraussetzungen.» Anders als in den Schlafsälen der Notschlafstellen seien die Menschen in Zweibettzimmern untergebracht und können, so sie das möchten, auch tagsüber im Haus bleiben. «Jemand, der in der Früh um Acht die Notschlafstelle verlassen muss, ist in erster Linie mit der Frage konfrontiert, wie und wo er den Tag verbringen soll». In den Chancenhäusern hätten die Obdachlosen Zeit und Ruhe, um über ihre Zukunft nachzudenken, einen Job zu organisieren, ihre Perspektiven abzuklären.

Sommerpaket.
Kiki und Jürgen* sind Teil der Initiative Sommerpaket, die im März 2019 gestartet wurde. Sie will Betreuer_innen und Sozialarbeiter_innen in der Winternot- und Wohnungslosenhilfe eine Stimme geben, um Trägerorganisationen, Förderstellen und Politik auf Missstände aufmerksam zu machen. Kiki, die bis Ende April in einem Winternotquartier gearbeitet hat, kennt die Situation, die jährlich mit Ende des Winterpaketes eintritt: «Wir müssen die Leute auf die Straße setzen, ohne dass die wissen, wohin sie gehen sollen.» Sie könnten die Obdachlosen zwar an eine Notschlafstelle wie VinziRast verweisen, «aber die Plätze reichen nie und nimmer.» Es brauche über das gesamte Jahr hinweg mehr Schlafplätze für Obdachlose, zumal in zahlreichen Einrichtungen die Anzahl der Nächtigungen pro Person beschränkt ist. Jürgen arbeitet in einem Tageszentrum: «Wir sind der Meinung, die Menschen sollen auch im Sommer nicht im Regen schlafen müssen.» In einem ganzjährig erhöhten Angebot an Notschlafstellen sehen die beiden keine Zementierung der Wohnungslosigkeit. «Obdachlosigkeit entsteht ja nicht, indem man Angebote für Obdachlose setzt», sagt Jürgen.
Chancenhäuser seien grundsätzlich gut, aber nicht für alle Obdachlosen die passende Lösung. «Sie sind höherschwellig, und es gibt nicht genug Plätze», meint Kiki, und Jürgen fügt hinzu, dass es sinnvoll sei, möglichst viele Leute auch tagsüber unterbringen zu können. «Aber aus der Arbeitspraxis wissen wir, dass es Akutplätze braucht». Das betreffe etwa Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. «Bei den Chancenhäusern gibt es aber jetzt schon Wartelisten.»

Bei Chancenhäusern sei, so Kiki, außerdem eine dreimonatige Abklärungsphase vorgesehen, in der Betreuer_innen und Klient_innen gemeinsam Perspektiven entwickeln. Jene, die das nicht leisten können, wie Alkoholkranke und Drogenabhängige, oder jene, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, würden früher oder später ihren Platz im Chancenhaus verlieren. Nicht die Anspruchsberechtigung sei ausschlaggebend, so Jürgen, «sondern ob jemand für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht oder nicht.» Kiki weiß, dass Notquartiere, wie es sie bisher gab, keine optimale Lösung sind: «Es ist eine Zumutung, Leute aus völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten in Mehrbettzimmer zu stecken. Oder Menschen, die krank sind, Diabetes oder Herzprobleme haben, jeden Abend mit Dosenfisch und -fleisch zu verköstigen.» Die Quartiere seien dennoch wichtig, um jene aufzufangen, die nicht in höherschwellige Einrichtungen können.
Kiki wünscht sich, dass die Verantwortlichen in der Wohnungslosenhilfe die Lebensrealitäten der Betroffenen ernster nehmen. Denn egal, was und wie viel ein Mensch leistet, muss ihm ein würdiges Leben und Wohnen gegönnt sein.

 

* Namen von der Redaktion geändert