SommertageDichter Innenteil

Illustration: Brunilda Castejón

Da kam er ja wieder des Weges, der Horst, Horst Aberl, ein wichtiger Mitarbeiter der Hausverwaltung. Immer war es der Sommer, der ihn so besonders auftreten ließ, das lag einerseits daran, dass sich eben das Leben in den kleinen Gärten hauptsächlich in der warmen Jahreszeit abspielte, und natürlich ganz besonders an seinem Äußeren, das, zugegebenermaßen, tatsächlich sehr anziehend war. Besonders gern trat er im Tennisdress auf, das war damals noch sehr ungewöhnlich, da Tennis erst sehr viel später zum Massensport wurde. Recht exklusiv also war diese Erscheinung, ein Mann Mitte dreißig, braun gebrannt, in weißen Shorts und weißem Polohemd. Horst Aberl galt als echter Fünfziger-Jahre-Traum, eben entweder in Weiß oder in seiner kurzen Lederhose mit kleinkariertem Hemd, blau oder rot; die Frauen auf den Balkonen wussten nicht, worin sie ihn lieber sahen. Aber er war ja der beste Ehemann und Vater, eine hübsche Frau gab es da und zwei blonde Buben. Und wie gerne sich Horst Aberl, der bestimmt genug um die Ohren hatte mit der Buchhaltung und der Gartenarbeit und der eigenen Familie, mit den Kindern im Hof beschäftigte. Wann immer sich die Gelegenheit bot, schnappte er eines und setzte es sich auf die Schultern, trug es herum auf dem Weg zwischen den Gärten. Hatten ja alle kurze Hosen an, Spielhosen sagte man dazu, aus buntem Stoff mit Latz und im Rücken gekreuzten Trägern, die Buben und die Mädchen. Beate und Senta, deren Großmütter beide Weißnähen gelernt hatten und deshalb nahezu alles auf diesem Gebiet beherrschten, trugen manchmal auch sehr hübsche selbst genähte Kleider. Horst hielt die Kinder gut fixiert auf seinen Schultern, da war kein Kind in Gefahr, herunter zu fallen. Seine braunen Hände hatten ihre kleinen Schenkel fest im Griff, ziemlich hoch oben hielt er sie, man sah seine Hände eigentlich gar nicht mehr; die rutschten immer tiefer in die belatzten Spielhosen oder unter die Röckchen, geradezu eisenfest war dieses Halten, aber die Finger waren nicht ruhig dabei, sondern bewegten sich immerfort hin und her. Komisch fanden das Senta und Beate, ließen sich aber trotzdem ganz gerne tragen, obwohl ja Senta eigentlich schon sehr groß war, größer als andere Neunjährige. Und die Hausparteien, die freien Blick hatten in die Gartenanlage, fanden es alle fabelhaft, dass sich ein erwachsener Mann so viel Zeit nahm für andere Kinder, für fremde Rangen; das war ja selten genug bei den eigenen Vätern, die trugen doch praktisch niemals ihre kleinen Fratzen Huckepack, fiel ihnen gar nicht ein.

Wie gerne sich Horst Aberl mit den Kindern im Hof beschäftigte

Auf den hintersten Garten, den Garten von Sentas Eltern, fielen die abendlichen Schatten zuerst, es wurde dann bald kühler und Frau Weyrich, die Oma von Beate, kam dann gern vorbei und brachte vorsorglich ein Strickjäckchen für die Enkelin. Da war Horst aber dann immer schon fort. Zuerst hatte er den Kindern, wie so oft, beim Murmelspielen zugeschaut. Das Spiel mit den Glaskugeln war unglaublich beliebt, dieses bunte Spielzeug hatte Leben und Seele. An einigen von ihnen hingen die Mädchen wie an Haustieren. Da hockten die Kleinen am Boden, vor einem in die Erde gestanzten Grübchen, und bewegten stundenlang die in den schönsten Farben und Mustern schillernden Murmeln. Außenseiter gab es da, die selten ins Loch trafen, andere fanden den Weg in die Grube auch aus weiter Entfernung. Es wurde auf Favoriten gewettet, Kugeln mit seltener Farbe, vor allem diese wunderschönen blauen, wurden besonders gehegt und manchmal sogar im Strahl des Gartenschlauchs gewaschen und mit einem alten Staubtuch poliert. Und gerne hockte sich Horst dazu, beobachtete diese Spiele und hartnäckig hatte er seine Augen zwischen den Beinchen der Kinder, wie sie da gespreizt vor dem kleinen Erdloch kauerten und im Eifer nichts bemerkten. Sie hätten oft gar nicht sagen können, ob der Horst jetzt da war oder nicht, so selbstverständlich war er für sie.

Einmal erzählte Beate ihrer Freundin Senta eine komische Geschichte. Da war Beate allein im Hof gewesen mit den Stofftieren im Puppenwagen, Senta war krank und durfte ein paar Tage nicht hinunter.

«Der Herr Horst hat gesagt, ich soll in seinen Garten kommen, einen Igel anschauen.» Die blauen Augen waren gespannt auf das Gesicht der anderen gerichtet; Senta, sowieso immer sehr blass, wirkte nach ihrer Krankheit noch ein wenig durchsichtiger. Der Igel hätte sie auch sehr interessiert.

«Was war mit dem Igel?»

«Er war nicht da, der Herr Horst hat gesagt, dass er sich wahrscheinlich unter dem alten Laubhaufen versteckt hat und erst am Abend heraus kommen wird. Er hat dann so ein komisches Spiel mit mir gemacht!»

«Ein Spiel?»

«Ja, er hat gesagt, jetzt spielen wir Feuerwehr und spritzen mit dem Schlauch. Er hat gesagt, ich darf den Schlauch halten. Aber es war nicht der wirkliche Wasserschlauch. Und dann hat er plötzlich Lulu gemacht, das war so komisch. Ich hab noch nie das Lulu von einem Mann gesehen, das schaut ganz anders aus wie unseres, irgendwie so weiß, na ja, ganz anders eben.»

Kleine Mädchen, damals, wussten nichts über diese Belange

Das waren natürlich unerhörte Neuigkeiten. Kleine Mädchen, damals, wussten nichts über diese Belange, auch wenn sie, wie in diesem Falle, Brüder hatten. Auch die Mädchen in der Gartenstadt wurden über die Dinge des Lebens nicht aufgeklärt, diese nicht und alle anderen auch nicht. Erst wenn die erste Regelblutung drohte erzählten ihnen die Mütter notgedrungen ein bisschen über ihre körperlichen Vorgänge, vor allem vor den Schulskikursen. Es war nämlich beobachtet worden, dass das erste Blut gerne bei ungewohnter körperlicher Tätigkeit auftrat, im speziellen Fall also beim Skifahren, oder war es vielleicht doch die Ortsveränderung. Das war dann für viele Mädchen, die davon überhaupt nichts wussten, ein großer Schock.

Ein Blick ins Jahr 1972: Das gesellschaftliche Ende eines verdienten Angestellten der Hausverwaltung:

Aber sei es wie es sei: Noch vierzehn weitere lange Sommer machte Hausverwalter Horst Aberl seine Spiele mit den Kindern, dann wurde er verhaftet. Senta war seit fünf Jahren verheiratet. Plötzlich hatte eine Elfjährige ihrer Mutter davon erzählt, das schlug wie eine Bombe ein. Dieses Mädchen galt allgemein als grenzdebil, wobei zu dieser Meinungsfindung allein schon die Tatsache genügte, dass ein Kind in der Hauptschule für den zweiten Klassenzug bestimmt wurde – eine im Grunde gut gemeinte, in der Auswirkung fatale Diskriminierung, deren Spuren in der Folgezeit überhaupt nicht oder nur sehr mühsam zu tilgen waren. Umgehend revidierte man seine Meinung über die kleine Maria, umso mehr als unzählige längst erwachsene Gartenstadtkinder plötzlich bereitwillig erzählten, dass es ihnen anno dazumal genauso ergangen war, sie jedoch gemeint hätten, es müsste so sein und hätte wohl schon seine Richtigkeit.

Aus der Novelle «Gartenstadtmenschen», Bibliothek der Provinz, 2015