«Sonne kalt»Artistin

Gerald Hartwigs autobiografisches Comicdebüt über Karriereanläufe in L.A.

Wir sind in Berlin, Dezember 2011, der Protagonist hat soeben einen Hinweis auf seine prekären Lebensverhältnisse gegeben: Frau, zwei Kids, kein «fließendes Einkommen», «Weglaufen geht nicht mehr. Nachdenken – keine Zeit.» Und: «Die Situation ist nicht neu in meinem Leben.» Doch dann kommt dieser Anruf aus Graz: «Etwas Furchtbares» ist passiert …Ja, wenn der Vater stirbt, sollte die Sonne aussetzen. Stattdessen setzen in dem autobiografischen Comicdebüt des in Berlin lebenden Österreichers Gerald Hartwig an dieser Stelle die Erinnerungen ein. Plötzlich tut sich Zeit zum Nachdenken auf. Am Fenster des Fliegers nach Graz tauchen die Bilder eines Flugs – oder einer Flucht? – nach Los Angeles auf. Als der 19-jährige Grazer 1993 in der kalifornischen Metropole eintraf, verstand er sogleich, dass er einen neuen Namen braucht: Jerry, Jerry Hartmann, kurz J. Diesem chamäleonartigen Akt werden in dem folgenden Jahrzehnt zahlreiche folgen. Statt zu warten, dass sich die Außenwelt anpasst, gleicht sich ihr das Chamäleon selbst an, zumindest an der Oberfläche.

Keine Antwort von Arnie


Doch zuerst: Was verspricht, erfolgreicher zu sein, als eine Ausbildung an einer Filmschule in Hollywood? Im Land der Möglichkeiten und der Freiheit … Als Österreicher, ja als Grazer, darf man da wohl ein Richtmaß haben. Der Brief an Schwarzenegger – dieser «geniale Grundstein für meine schillernde Karriere» – bleibt allerdings unbeantwortet, soweit der Comic davon in Kenntnis setzt.

 

Doch darauf wartet Jerry nicht: Der junge Mann ist voller Unternehmensgeist und Abenteuerlust und lässt sich auf einiges ein. Nur wer auch wagt, gewinnt, das ist man ambitionierten Zielen und Projekten schuldig. Schreibideen, Filmprojekte sprießen wie Pilze. Doch dann wird es das erste Mal brenzlig, nicht alle arbeiten mit den offenen Karten. Diesmal bedeutet es, seine Sachen packen und weg: «Fuck-you-huuuu».

Das Chamäleon, das an dieser Stelle erstmals als Zeichnung auftaucht, steht in dem Comic für unterschiedliche Phänomene. Während es hier das Entkommen, die rettende Tarnung symbolisiert, kennzeichnet es vor allem die vielen Ich-Wechsel, mit denen der Protagonist wiederholt dem eigenen Scheitern zu entrinnen versucht. Denn irgendwie gerät Jerry in einen Strudel hinein, in dem das Leben und Überleben in der Metropole L.A. zu einem unablässigen Kampf wird. Die Geldnöte, die sich trotz wohlwollender Kreditkarteneltern in Graz immer erneut kundtun, und die vergeblichen Anläufe, Projekte erfolgreich abzuschließen, fahren dem Wäre-gern-Bohemien durch vorübergehende Liebesabenteuer und Sexerfahrungen ebenso vorübergehend aus dem Sinn. Doch auch das Sex- und Liebesleben ist nicht ohne weiteres beglückend.

Chamäleon im Paralleluniversum


Das tatsächliche Problem Jerrys hat mit einem ständigen Missverhältnis zwischen Ansprüchen und Realität, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung zu tun. Festgehalten in der «Ego-Blase – auch L.A.-Bubble genannt», in der «die Wahrnehmung auf Makro am Selbst festgestellt» ist, gelangt Jerry kaum noch «außerhalb [s]eines Paralleluniversums». Eine Steigerung ist noch drin, etwa als J. sich mit Drogen zu helfen versucht und ein Doppelleben «als echtes Chamäleon» zu führen beginnt: «Am Tag der eine, nachts der andere.»

 

Schonungslos durchleuchtet Gerald Hartwig sein Alter Ego, spürt mit Ironie und Selbstironie seinen Täuschungen und Selbsttäuschungen nach, der immer wieder neuen Entschlossenheit, sich «neu zu orientieren», nachdem wieder einmal «das Jahrhundert und ich […] zum Stillstand» gekommen sind, «ein anderes Ich» zu finden, bis zur «x-te[n] Inkarnation», wenn nötig auch mit Hilfe einer Hypnosetherapie.

Doch die Suche nach einem nachhaltigeren Ich erreicht in dem Comic auch eine Grenze, das Spiel mit der Wiederholung zeigt im Lauf der Geschichte Abnützungserscheinungen auf, das Déjà-vu droht zum Überdruss (auch für die Leser_innen) zu werden. Anders als das reale Leben verträgt ihr autobiografisches Pendant nur ein gerüttelt Maß an Längen und Schleifen.

 

Was den Fokus auf derartige Schwachstellen zerstreut, ist die künstlerisch durchaus beachtliche Umsetzung dieses autobiografischen Rückblicks. So bringt Hartwig in seinem Comicdebüt eine ganze Reihe raffinierter ästhetischer Mittel zum Einsatz, die immer wieder für Überraschung sorgen. Auffallend ist eine unkonventionelle Paneleinteilung, die sich nahezu Seite für Seite neu zusammensetzt. Immer wieder steigen Bilder – als Anspielung auf jene L.A.-Bubble? – blasenförmig über die Seiten. Techniken des Films wie Zoom und Detailaufnahme kommen ebenso zum Zug wie spektakuläre Perspektivenwechsel oder spielerische Zerschnipselungen, Auflösungen von Bilderrahmen, Generierung neuer Bildkästchen aus den Details vorausgehender Panels oder ihre collageartige Anordnung. Darin lässt sich auch ein Pendant zur sprühenden künstlerischen Fantasie und Energie des Filmstudenten, Drehbuchschreibers oder Malers Jerry erkennen.

 

Zu den wirksamen ästhetischen Mitteln gehört auch die monochrome Kolorierung des Comicromans. Auf die wenigen schwarz-weißen Seiten, die zu Beginn des Comics die gegenwärtige Situation des Protagonisten darstellen, folgen – mit wenigen Unterbrechungen – auf rund 250 Seiten die Erinnerungen in sepia-brauner Farbe. Einmal abgesehen davon, dass Hartwig – wie bereits an anderer Stelle bemerkt wurde – das vielleicht naheliegende künstlerische Potenzial des bunt schillernden Chamäleons ungenutzt lässt, kann man dem Zeichner zweifellos einen kunstfertigen Umgang mit Licht und Schatten zugestehen, der auf subtile Weise die Zerrissenheit der Hauptfigur hervorhebt. Auch Hartwigs Zeichnung verfügt über originelle Züge und Einfälle. Der teils zerfranste krakelige Strich erschöpft sich nicht allein darin, poppig zu sein, bemerkenswert ist seine gelegentliche Beziehung zu den handgeschriebenen Schriftzeichen, eine Korrespondenz zwischen Zeichnung und Gekritzel, zwischen Text und Bild, die sich auch als immanente Hommage an das Medium des Comics lesen lässt.

Innenschau und Außenschau


Daran schließt auch ein aufmerksamer Blick auf die Welt als Zeichenpool voller Botschaften an. Kritzeleien an Häuserwänden fügen sich ebenso wie etwa T-Shirt-Aufschriften in den Kontext des Comicgeschehens. Gemeinsam mit einer Vielzahl weiterer in den Comic eingebetteter Textsorten bilden sie schließlich ein nicht ganz unbedeutsames Merkmal des Modern-Romanhaften, das sich durch Hartwigs «Chamäleon» zieht. To-do-Listen, Preislisten, Schilder, Graffiti, Zitate, Lektüre-Exzerpte, eine eingeschobene Comicgeschichte, Tagebuchnotizen, eigene und fremde, SMS-Nachrichten, ein gefaxter Liebesbrief sowie viele Songs, die oftmals in Lautgedichtform die Seiten durchqueren, stellen zusammen ein Gegengewicht zu der gelegentlich allzu vertieften «Innenschau» dar, das dem Comic gut tut.

 

Auf den Vater kommt der Comic am Ende nicht mehr zurück. Er hat offenbar seine Schuldigkeit getan. Der Verlust des Vaters hat in Jerry etwas ins Rollen gebracht: den Zugang zu einer Reihe verschütteter Verlusterlebnisse, die, chamäleonartig getarnt, zwischen Wunschtraum und davon unbeeindruckter Realität ins Unkenntliche entrückt waren. Mitunter lässt die Lektüre vergessen, dass Hartwigs Comic auch einer Freilegung dieser schmerzhaften Erkenntnis dient. So wie Jerry umgekehrt in seiner Projektion die kalifornische Sonne «irgendwann als kalt» erscheint. Während das Chamäleon in seiner Wandelfähigkeit vordergründig lediglich für die Metamorphosen des Protagonisten steht, erscheint es – etwas gegen den Strich gelesen – schließlich auch als Bild für dessen verstellten Blick auf sich selbst.

Gerald Hartwig: Chamäleon. Luftschacht Verlag, 2013

Translate »