«Sozialer Wohnbau ist die Königsdisziplin»tun & lassen

Die Architekturjournalistin Isabella Marboe nahm für ihr erstes Buch zwanzig Wohnbauprojekte unter die Lupe, die unter «neue gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens» firmieren. In einem altehrwürdigen Vorstadtcafé ging sie näher auf diese Publikation ein.

INTERVIEW: REINHOLD SCHACHNER
ILLUSTRATION: MUCH

Was ist Ihr persönlicher Bezug zum Titel Ihres Buches Bauen für die Gemeinschaft?
Ich bin seit über zwei Jahrzehnten Architekturjournalistin mit einem vertieften Interesse am sozialen Wohnbau. Für mich ist Wohnen ein Grundrecht und der soziale Wohnbau die Königsdisziplin in der Architektur. Mir fiel auf, dass die Rahmenbedingungen für den sozialen Wohnbau – aus unterschiedlichen Gründen – immer schwieriger werden. Immobilien sind zunehmend Wertanlagen und Spekulations­objekte, das hat massive Auswirkungen auf das Wohnen. Mein erstes Buch wollte ich einem Thema widmen, das mir am Herzen liegt und das ich für wirklich relevant halte. Ich wollte Wohnformen zeigen, die menschlich, leistbar und inklusiv sind. Dazu zählen natürlich Baugruppen als klassisches Beispiel für Bauen für die Gemeinschaft, wo sich Menschen zusammentun, die selbstbestimmt wohnen wollen. Ich wollte Gemeinschaft aber weiter fassen und daher unbedingt auch sogenannte Randgruppen mitdenken. Die Auswahl der Projekte sollte ausgewogen sein und auch die Vergangenheit reflektieren, konkret: Ottokar Uhl, die Siedlerbewegung, das Rote Wien.

Sie schreiben in Ihrem Buch von einem Boom gemeinschaftlicher Wohnprojekte in Wien. Wie erklären Sie sich diesen Boom?
Ich hole kurz aus: In den 1970er-Jahren gab es die ersten starken Baugruppenbewegungen. Architekten wie Ottokar Uhl und Fritz Matzinger sind von den damals modernen Großsiedlungen befremdet gewesen und versuchten, andere Wege zu finden. Uhl war die Selbstbestimmung seiner Bewohner_innen sehr wichtig, er hat dabei teil­weise auch auf Vorfertigung und Industrialisierung
zurückgegriffen. Die gemeinschaftlichen Planungsprozesse waren damals aber sehr langwierig. Beim Projekt «Wohnen mit Kindern» von Ottokar Uhl (1981–84) sind von Planungsbeginn bis Bezug 123 Gruppen­sitzungen, 20 Baustellenbesprechungen und 131 Einzelberatungen dokumentiert. Die Umsetzung der großartigen Sargfabrik (BKK-2, 1988–96) dauerte acht Jahre. Dann ist es aus der Mode geraten, weil es den Leuten zu mühsam geworden ist.
Ich glaube, es gibt heute wieder eine Sehnsucht nach Gemeinschaft. Parallel dazu hat sich das Rollenbild der Architekt_innen sehr geändert, sie sehen sich weniger als Künstler_in oder Macher_in, sondern mehr als jemand, der Benutzer_innen in den Vordergrund stellt. Es interessiert sie, ob Menschen in ihren Wohnungen glücklich sind.

Nur ein sehr kleiner Teil der Wiener Bevöl­kerung wohnt in gemeinschaftlichen Projekten oder wird in absehbarer Zukunft in ein solches ziehen. Kann sich der Mainstream heute schon irgendetwas von dieser Wohn-Avantgarde abschneiden?
Die Baugruppen sind mittlerweile viel effizienter organisiert als etwa noch in den 1970er-Jahren. Dann gibt es immer mehr hybride Formen. Inzwischen hat auch die Gemeinde Wien erkannt, dass die Bildung von Gemeinschaft für den sozialen Zusammenhalt wichtig ist. So gibt es beispiels­weise immer mehr Gemeinschaftsbeete in sozialen Wohnbauten, weil Garteln Menschen zusammenbringt. Oder man versucht, durch
moderierte Prozesse gemeinsame Aktivitäten anzuregen. Baugruppenprojekte, die unterschiedlichste Ressourcen voraussetzen, sind nicht die einzige Art, beim Wohnen Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Es braucht ein paar gezielte Maßnahmen und eine kritische Masse an Menschen, die diese Maßnahmen trägt. Die Gemeinde Wien hat das beobachtet und bewusst Parzellen für Baugruppen reserviert, weil engagierte Leute einem Grätzel guttun. Sie hat auch erkannt, dass Kommunikationsprozesse begleitet werden müssen und dass monofunktionale Wohnquartiere keine guten Stadtviertel schaffen, sondern Ghettos entstehen können. Sie schaut zunehmend darauf, dass Erdgeschoße durch
Geschäfte und Lokale belebt sind, dass Büros und Gewerbe möglich sind. Das große Vorbild ist die Gründerzeit, wo man auch im Erdgeschoß die Geschäfte hatte, darüber Ordinationen, Büros und Wohnungen. Alles in einem Haus.

Isabella Marboe:
Bauen für die Gemeinschaft in Wien
Edition DETAIL 2021
141 Seiten, 39,90 Euro