Soziales Fieberthermometertun & lassen

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«Da war ein Fenster offen und eine Geigerin spielt, irrsinnig schön, also Mozart und Bach. Dann waren immer mehr Leute, sie wollte schon aufhören. Eine Freundin von mir hat gesagt: Bitte nicht aufhören! Bitte noch eins spielen. Zu Hause ist alles still und zu Hause wartet niemand auf mich und zu Hause bin ich allein. Und sie hat dann noch gespielt, also mir sind total die Tränen gekommen.» Das erzählt eine Frau aus Graz. Sie spricht über die Coronazeit. Sie lebt unter der Armutsgrenze. Eine Studie hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter_innen und Ich-AGs, prekäre Künstler_innen, Leute mit Mindestsicherung und Notstandshilfe, Alleinerziehende, Reisebegleiter_
innen und eine Marktfahrerin sprechen über ihr Leben in der Coronakrise.
Was ausschließlich Armutsbetroffene aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, vor allem Obst und Gemüse, aber auch in Versandhandel und Gastronomie. Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Von Armut Betroffene sind eine so verletzliche Gruppe, da kann jeder Euro mehr, den man ausgeben muss, für eine Existenzkrise sorgen. Sie sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative, gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen. Auch beginnende Beschämungs- und Spaltungstendenzen in der Gesellschaft – sprich: die Suche nach Sündenböcken – spüren sie schon früher. Noch in jeder Pandemie der Menschheitsgeschichte hat die Frage nach den «Schuldigen» eine wesentliche Rolle für ihre Verarbeitung gespielt, haben die sozial Randständigen und Minderheiten das größte Risiko getragen, als «Sündenböcke» ausgewählt zu werden.
Viele Armutsbetroffene gehen einer geringfügigen Beschäftigung nach und bessern dadurch Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder (Mindest-)Pension auf. Die Geringfügigkeitsgrenze liegt bei 460,66 Euro – das ist viel Geld. Sie verloren ihre geringfügige Beschäftigung nach dem Lockdown und damit einen beträchtlichen Teil eines Einkommens, das so knapp ist, dass jeder Euro zählt. «Ich habe die ganzen Jahre über immer wieder mit kleinen Nebentätigkeiten ein bissl was dazuverdienen können, und dann bin ich wirklich zurückgeworfen worden auf diese 600 Euro. Was nämlich jetzt bei mir auch passiert ist: dass ich jetzt mehr Schulden angehäuft habe. Das sind keine großen Schulden, das ist dort einmal ein 50er ausgeborgt, dort einmal einen 20er ausborgen. Nur irgendwann muss ich die zurückzahlen.»
Die alte Normalität wird in der neuen umso besser sichtbar. Wer vor dem März 2020 prekär oder gar irregulär gearbeitet hatte, konnte in den Wochen danach den Lebensunterhalt aus eigener Kraft kaum noch bestreiten. Die Armut setzte für viele Menschen nicht erst mit Covid ein. Deswegen dürfen wir soziale Verwerfungen und Armut auch nicht «covidisieren». Heißt: Was gegen Armut vor Corona geholfen hat, hilft auch jetzt gegen Armut. Eine gute Mindestsicherung ist besser als eine schlechte Sozialhilfe, leistbare Therapien oder gute Schulen für alle helfen jetzt wie davor.

Zum Weiterlesen:
Evelyn Dawid: Armutsbetroffene und die Corona-Krise.
Eine Erhebung zur sozialen Lage aus der Sicht von Betroffenen