Sperlgasse – Minsk – und nicht mehr retourtun & lassen

Gedenken an den NS-Massenmord in Weißrussland

Verschwiegener Massenmord. In Maly Trostinec, einem Vorort der weißrussischen Hauptstadt Minsk, haben die Nazis rund zehntausend Österreicher_innen ermordet – aber kaum jemand bei uns hat je darüber gesprochen. Bernhard Golob (Text und Foto) hat sich das Gedenken vor Ort angesehen.

Zwischen November 1941 und Oktober 1942 schickten die nationalsozialistischen Behörden zehn Züge mit je etwa tausend Menschen vom Sammellager Kleine Sperlgasse 2a in Wien nach Minsk. Bis auf einige wenige wurden die meisten noch am Tag ihrer Ankunft ermordet.

Zwei Überlebende

Einer dieser Unglücklichen war der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Oswald Franz Levett. Der 1884 geborene Jurist arbeitete unter anderem als Rechtsanwalt und als gerichtlich beeideter Dolmetsch für sechs Sprachen: Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch und Russisch. 1925 bearbeitete er gemeinsam mit Leo Perutz Victor Hugos Roman «Quatrevingt-treize». In den folgenden Jahren veröffentlichte er neben seiner Tätigkeit als Anwalt die Romane «Verirrt in den Zeiten» und «Papilio Mariposa». Im März 1939 floh er nach Brüssel, wo er am 23. Oktober 1940 festgenommen wurde. Auch sein 1933 erfolgter Übertritt vom Judentum in die altkatholische Kirche rettete ihn nicht. Am 5. Oktober 1942 wurde er mit dem Zug nach Maly Trostinec deportiert. Der kurze Wikipedia-Eintrag über ihn schließt mit den Worten: «Nach der Ankunft im Lager am 9. oder 10. Oktober war Levett nicht unter den zwei Überlebenden dieser Deportation.»

Fehlendes Grabmal

Oswald Franz Levett ist einer von circa 10.000 Österreicher_innen, die von den Nazis in Maly Trostinec ermordet wurden. Mehrere zehntausend Opfer aus der besetzten Sowjetunion, vor allem Juden und Jüdinnen aus dem Ghetto Minsk kommen dazu. Die Angaben über die Ermordeten in Maly Trostinec schwanken zwischen 40.000 und 60.000.

In Weißrussland ist nicht nur die Ermordung der jüdischen Opfer bekannt, sondern auch der Vernichtungskrieg der Nazis gegen die gesamte weißrussische Bevölkerung: Die Dörfer, in deren Nähe Partisan_innen aktiv waren, wurden pauschal beschuldigt, den Widerstand zu unterstützen, wurden eingekreist und mitsamt den Bewohner_innen verbrannt. 5295 Dörfer wurden so vernichtet. An diese Gräuel erinnert die weißrussische Gedenkstätte Chatyn nahe Minsk. Und auch an den Massenmord in Maly Trostinec erinnert ein imposantes weißrussisches Mahnmal.

In Österreich aber ist von all dem wenig bekannt. Weder vom Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die weißrussische Zivilbevölkerung, an dem auch so manche unserer (Groß-)Väter beteiligt waren, noch vom Massenmord in Maly Trostinec. Daher fehlt vor Ort auch ein würdiges Grabmal für die österreichischen Opfer der Shoa. In Minsk gibt es zwar eine kleine Gedenktafel, in Maly Trostinec, aber keinen Gedenkstein, kein Grabmal mit den Namen der Ermordeten, damit sie als Menschen, als Individuen in Erinnerung bleiben. Nicht als jene anonyme Masse, zu der ihre Mörder sie machen wollten. Ein Ort des Gedenkens auch für die Angehörigen.

Immer erinnern

Der Verdienst, das Thema in die Öffentlichkeit gebracht zu haben, gebührt nicht der Republik Österreich, sondern einer kleinen, privaten Initiative. Nachfahren mehrerer Ermordeter haben sich vor einigen Jahren zum Verein «IM-MER. Initiative Maly Trostinec erinnern» zusammengeschlossen. Seit 2010 organisieren sie Gedenkreisen nach Minsk, bei denen unter anderem auch Schilder mit den Namen der Ermordeten in jenem Wald angebracht werden, wo die Massaker geschahen. Diesem Verein ist es zu verdanken, dass der österreichische Nationalrat im Vorjahr – 71 Jahre nach der Befreiung – den einstimmigen Beschluss gefasst hat, dieses Grabmal zu errichten. Immerhin. Jetzt sollte der Beschluss auch noch umgesetzt werden. Und finanziert. Trotz Neuwahl.

Info:

www.im-mer.at

Gedenkmärsche für die Ermordeten an den Jahrestagen der Deportationen: 17. und 31. August, 14. September, 5. Oktober. Treffpunkt: 13 Uhr, 2., Kleine Sperlgasse 2a

Die nächste Gedenkreise nach Maly Trostinec findet im Mai 2018 statt

Filmtipps:

«Geh und sieh» (Elem Klimow, 1985). Sowjetischer Antikriegsfilm, der vom Partisan_innenkampf und dem Vernichtungskrieg der Nazis gegen die weißrussische Zivilbevölkerung erzählt

«Defiance – Für meine Brüder, die niemals aufgaben» (Edward Zwick, 2008). Etwas reißerischer, aber durchaus sehenswerter Hollywoodfilm über die jüdische Partisanengruppe der Brüder Bielski in den Wäldern Weißrusslands

Beide Filme gibt es in der Städtischen Bücherei

Autoreninfo:

Bernhard Golob unterrichtet Deutsch und Geschichte auf dem «Schulschiff» Bertha von Suttner in Wien Floridsdorf