Spielen, bis die Bullen kommenArtistin

Wenn die Straßenkunstfestivals enden, beginnt der Alltag der Überregulierung

Jede Stadt, die das Zeitgenössische an ihr auf den Präsentierteller legen will, leistet

sich ein Straßenkunstfestival. Pflasterspektakel in Linz, La Strada in Graz, Buskers in Wien. An den Tagen ohne Festival verzweifeln die Aktiven am furor prohibendi, wie Freud die «in unserem Vaterland» herrschende Neigung «zur Bevormundung und zum Verbot» nannte.

Foto: Erich Leonhard

In der Stephansplatz-Passage, wo die U1 die U3 kreuzt, zeigt sich der Großstadtmensch in seinem Element. Pomali ist hier tatsächlich ein Fremdwort. Hier herrscht das ultimative Unbummeln, das Loslegen der Massen, das der Lautsprecheransage «Bitte steigen Sie nicht mehr ein» folgt, das Hasten zu den Büroarbeitsplätzen des ersten Bezirks, der kollektive Spurt zu den Tempeln des Kommerzes, zu den Orten der Verabredungen, zu den Terminen, die man nie durch eine Lustwandelei erreichen kann, der Sprint zu den mit Öffnungszeiten abgesicherten Institutionen, vor denen niemand der oder die Letzte in der Warteschlange sein will. Ein alltagsverhaltensforscherisches Rätsel: Warum tun sich auch die Tourist_innen dieses Wieseln und Traben an? Diese Damen und Herren auf Wienbesuch könnten uns doch zeigen, was flanieren und schlendern heißt …

Stephansplatzpassage, mittlere Etage.

Der Instinkt der schnellsten Verbindung lässt kein Ausscheren aus dem Passant_innenströmen zu, die zwischen herankarrenden oder hinwegkarrenden Rolltreppen rauschen. Niemand verlässt die imaginäre Spur. Darunter leiden die neuen U-Bahn-Stars. Um diesen Ehrentitel zu erhalten, müssen Musikerinnen und Musiker bei den Wiener Linien ein Casting absolvieren oder ein Video schicken. In der Zeitspanne von 15 bis 23 Uhr dürfen sie die Vorbeihastenden mit einem Konzert erfreuen, das je Gruppe bis eineinhalb Stunden dauern kann. Den Teilnehmenden an diesem Projekt der Verkehrsbetriebe, das vor einem halben Jahr startete, steht es frei, Spenden einzusammeln, über die sie selbständig verfügen können. Freilich haben sie keine Wahl, was ihren genauen Auftrittsort betrifft.

In der Passage Stephansplatz ist die mit dem U-Bahn-Stars-Logo gekennzeichnete Fläche, die die Künstler_innen als «Bühne» akzeptieren müssen, gefühlte hundert Meter vom hegemonial benutzten «Pfad der Tugend» entfernt. Die «Stars» müssen buchstäblich vom letzten Eck aus die Aufmerksamkeit der immerhin in Sicht- und Hörweite Vorbeieilenden wecken. Der Autor dieser Zeilen schwört, sich an keine intensivere Kommunikation an diesem Ort zwischen «Stars» und Publikum, an keinen anteilnehmenden Halbkreis, an keine für das Herausholen aus dem Alltagsstress dankbaren Stadtbenützer_innen erinnern zu können. Vor der imaginären Bühne – eine reale Bühne verbietet sich auf dem Feld der Straßenkunst, auf dem die inflationär propagierte Pflicht der «gleichen Augenhöhe» gilt – lag ein realer Hut und fadisierte sich.

Endstation Polizeigefängnis.

Die «gefühlten hundert Meter» Distanz unterm Stephansplatz sind symptomatisch für das Verhältnis zwischen Stadt und Künstler_innen. Wer noch die Skrupel der Autonomie besitzt und daher auf die Privilegien, die ihm der U-Bahn-Star-Vertrag mit den Wiener Linien verschafft, verzichtet – den oder die wird die Härte der Überregulierung treffen, als ob sich nichts geändert hätte. Für sie gilt als Konzertdauer, wie sie immer galt: «Spielen, bis die Bullen kommen». Für sie gilt die Anmeldepflicht und der geforderte Standplatzpreis für die Inneren Bezirke.

Der neue Wiener Bürgermeister wird auch daran zu messen sein, wie sehr er bereit ist, die Überregulationen, die die Freiheit der Benutzung des öffentlichen Raums einschränken, abzubauen. Der Handlungsbedarf ist riesig: Während kooperierende Musiker_innen sich an ihrem Straßenkunst-Star-Titel erfreuen dürfen, wird den Roma-Musiker_innen, die in den U-Bahn-Waggons ertappt werden, das Geld abgenommen – bevor sie ins Polizeigefängnis kommen und die Gesellschaft mit 150 Euro Bundeshaushaltsgeld pro Delinquent_in und Gefängnisnacht belasten. Es geht nicht nur um die Freiheit der Kunst im öffentlichen Raum. Es geht insgesamt um seine Commons-Qualitäten. Und um die soziale Frage, die in die Public-Space-Politik hineinspielt. So wird das Oktoberwiesenfest beim Prater 2018 einmal mehr der Ort der größten Ansammlung Betrunkener im öffentlichen Raum sein, aber die Lederhose und das karierte Hemd wird sie davor beschützen, bestraft zu werden wie die trinkenden Obdachlosen vom Praterstern.

Bei einem von der IG Kultur einberufenem Wiener Straßenkünstler_innentreffen ist angekündigt worden, mit der neuen Stadtregierung in Dialog zu treten. Sabine Maringer, Mitglied der Straßenperformance-Gruppe Belle Etage und Initiatorin des Treffens, wird dabei die Streichung aller die Straßenkunst behindernden Überregulierungen fordern und den Stopp der Kriminalisierung von Mitgliedern marginalisierter Gruppen, deren Musik im Alltagsbewusstsein zur Bettelei gezählt wird. Maringer sammelt Best-Practice-Beispiele zur Platzvergabe in anderen Städten. Sie kritisiert die Bevorzugung von Theaterhäusern und -institutionen durch Subventionsgeber_innen und meint, dass diesen die potenzielle Unkontrollierbarkeit der Straßenszene suspekt sei.

Irgendwie pervers.

Aus Tirol war Tom Zabel angereist. Konfrontiert mit dem U-Bahn-Stars-Projekt der Wiener Linien rutschte dem aus Süddeutschland stammenden Marionettenkünstler, Straßenperformer und Peter-Weibel-Schüler spontan das Adjektiv «irgendwie pervers» heraus. Diese Einmischung der Bürokratie könne eine freie Straßenkunstszene, die immer auch Elemente des Anarchismus in sich trage, nicht hinnehmen. «Irgendwie pervers» findet Zabel auch den Widerspruch zwischen der Alltagshaltung der Städtemanagements gegenüber der Straßenkunst und den Tourist_innen aus aller Welt heranlockenden Straßenkunstspektakel, die inzwischen überall Funktionen im Rahmen des Städtewettbewerbs und des Wirtschaftswachstums zu erfüllen haben. An dreihundertzweiundsechzig Tagen im Jahr werden Straßenkünstler_innen vergrämt – um dann ganze drei zusätzliche Tage lang als lebende Beispiele für den Grad der Urbanität, der Kunst- und Musikfreundlichkeit zelebriert zu werden.

Jede Stadt mit dem Anspruch, offen für zeitgenössische Jugendkultur zu sein, leiste sich schon ein Festival für Clowns, Gaukler_innen, Straßenheatergruppen, Barden, Märchenerzähler_innen, stillen Statuen und Jongleur_innen. Wien hinke anderen Landeshauptstädten nach – erst seit 2011 etablierte sich das jährliche Buskers Festival am Karlsplatz. Buskers sind die mit dem Hut. Und, wenn alles läuft, wie es laufen soll, mit dem Ring voller Menschen um sich. Heuer findet das Buskers Festival im September statt. Den interessantesten politischen Anspruch formulieren die Macher_innen des Grazer Festivals La Strada. Es stellt bewusst eine Kontinuität von der von Allan Karpov Anfang der 1960er Jahre konzipierten und praktizierten Kunstform des Happenings bis zu den ab den 1980er-Jahren überall auftauchenden Bewegungen zur Eroberung öffentlicher Räume durch die Zivilgesellschaft und ihre Kunst her.

La Strada ist das Erbe dieser Kontinuität, und folgerichtig kam der Impuls zur Bildung eines internationalen Netzwerks zur Förderung und Entwicklung von Kunst im öffentlichen urbanen Raum (IN SITU) aus Graz. Aber auch aus Sicht der Grazer Protagonist_innen ist Marseille das heimliche Zentrum der Bewegung. Das dortige «lieux publics / centre national de création en espace public» (Öffentliche Orte / Nationales Zentrum der Kreation im öffentlichen Raum) ist das innovativste Laboratorium der Straßenkunst. Um die Liste der großen österreichischen Treffen zu vervollständigen: Das älteste Festival ist in Linz beheimatet – das Pflasterspektakel (Juli) findet bereits zum zweiunddreißigsten Male statt!

Tom Zabel hat ein Ziel: «Es gibt in Wien eine Schule für Dichtkunst. Ich denke, Ähnliches brauchen die Leute, die im öffentlichen Raum arbeiten: eine Schule für Straßenkunst. Die brauche man auch, um den Stolz nicht zu verlieren: Landläufig ist die Meinung zu hören, Straßenkünstler_innen seien jene bedauernswerten Versager_innen der Kunstszene, die es nicht geschafft haben, auf der Theaterbühne Fuß zu fassen. Nichts ist falscher! Schau dir zum Beispiel das Leben meines großen Vorbilds, Bernd Bernelli Witthüser, an. Dieser deutsche Folksänger hätte das Zeug gehabt, solo oder als Hälfte des Duos Witthüser & Westrupp Konzertsäle zu füllen. Bernd verweigerte sich schließlich dem kommerziellen Musikbetrieb, lebte nomadisch und/oder in Italien und spielte nur noch auf der Straße. Diese Auftritte waren von niemandem außer von ihm selbst beauftragt.»

Spannende Interventionen.

Weiters verweist Zabel auf die Theaterensembles, die ihre Produktionen zunehmend in den öffentlichen Raum verlagern, sei es, weil das Dach überm Kopf bzw. über ihrer Bühne aufgrund der einseitigen Förderungen der Institutionen der Hochkultur nicht mehr finanzierbar ist, sei es, dass die Schauspieler_innen die überkommene Trennung von Publikum und Bühne satt haben. Um wie viel spannender sind, meint Zabel, «Inszenierungen, die sich als Interventionen im öffentlichen Raum verstehen und die bewusst auf technische Hilfsmittel verzichten, auch im Sinn des von Grotowski konzipierten «Armen Theaters». Mit seinen Kollegen Franz Unger und Joseffo Olivero verwirklicht er unter dem Ensemble-Namen «du & nichts» das, was ihn am meisten im zeitgenössischen Theater reizt: «Site specific work», was eine Theater-Methode meint, die auf eine möglichst raffinierte Art die Architektur des Spielorts und die sonstigen baulichen und sozialen Gegebenheiten, die den jeweiligen Platz kennzeichnen, in die Inszenierung integrieren.

Leben kann er von solchen «du & nichts»-Experimenten nicht. Braucht er auch nicht, denn er hat «Ferry» zur Verfügung, die Marionettenpuppe, mit der er zu einer ausreichenden Menge an bezahlten Engagements kommt. Aber so sicher, wie die Krise kommt, kehrt auch die Zeit der großen Happenings auf den von Bevölkerungen besetzten Plätzen der europäischen Großstädte zurück. «Ferry» wird dabei sein …

 

Pflasterspektakel

19. bis 21. Juli, Linz

www.pflasterspektakel.at

La Strada

27. Juli bis 4. August, Graz

www.lastrada.at

Buskers Festival

7. bis 9. September,

Karlsplatz, Wien

buskers.at

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