Sprachenträume in der Traumsprachetun & lassen

Viele Kinder in Wien sind problemlos polyglott - wer Deutschzwang will, ist bildungsfeindlich

Wos voikommen unpackbar is und wos an nua mehr wundat,

de san so deppat und woin zruck ins vurige jahrhundert

(Attwenger)


Auf Wiener Kinderspielplätzen wird in vielen Sprachen kommuniziert. Nach den Vorstellungen rechter Politiker soll das in Kinderbetreuungseinrichtungen und sonstigen Bildungsanstalten anders sein. Nanu, wer träumt denn da? Und wovon eigentlich?

«Oxonitsch und Prokop sollen teure Multikulti-Träumereien aufgeben», forderte Frau Doktor Dagmar Belakowitsch-Jenewein im Herbst 2011 in einer Presseaussendung unter dem Titel «Türkischer Kindergarten floppt zum zweiten Mal». Die Namen der beiden angegriffenen SPÖ-Politiker und der Name der besorgten FPÖ-Politikerin haben natürlich nichts mit Multikulti zu tun. Wie komme ich nur darauf?

 

Wenn ich mit meinem bald drei Jahre alten Sohn auf Wiener Spielplätzen unterwegs bin, bekomme ich viele Sprachen zu hören. Deutsch, Türkisch, Persisch, Arabisch, Italienisch, Englisch, slawische Sprachen hörte ich in letzter Zeit. Und einige, die ich bisher nicht zuordnen konnte. In Ottakring, in Neubau, in der Josefstadt. Einmal hörte ich eine kleine Gruppe etwa zehnjähriger Kinder mit leichten, vermutlich slawischen Akzenten ein grammatikalisches Problem der deutschen Sprache diskutieren. «Na, Oida! Das is‘ kein Hauptwort, Oida!», sagte ein Bub. «Wo kommst denn du her?», fragte ihn daraufhin ein anderer, «aus Oida-Land oder was?» «Nein, aus Poland», erwiderte der Ersterer. Die Kinder interessieren sich für die deutsche Sprache, sie spielen mit ihr, sie entwickeln sie weiter. Deutsch ist eine lebende Sprache mit verschiedenen lokalen und regionalen Färbungen. Sie wird von allen, die sie verwenden, gemeinsam weiterentwickelt. Von dem Burschen aus Po- beziehungsweise Oida-Land ebenso wie von der Frau Doktor, die ihren Politikerkollegen «Multikulti-Träumereien» attestiert. Multikulti-Träumereien, Oida!

Viele Kinder in Wien sprechen mehrere Sprachen. Unser Sohn wechselt problemlos zwischen Deutsch und Türkisch, der Sprache seiner Mutter. Manchmal korrigiert er mein noch recht bescheidenes Türkisch, manchmal lobt er mich, manchmal macht er sich darüber lustig. In jedem Fall profitiere ich, weil er mich motiviert, weiter zu lernen.

In seiner Kindergruppe gibt es eine Pädagogin, die mit den Kindern Deutsch spricht und eine, die Türkisch spricht. Die Gruppe singt deutsch- und türkischsprachige Lieder, feiert türkische und österreichische Feste. Kein Kind wird dabei zu einer Sprache gezwungen. Jeweils ein Drittel der Kinder kommt aus einem Elternhaus, in dem nur deutsch respektive nur türkisch gesprochen wird. Ebenfalls etwa ein Drittel wächst zu Hause zweisprachig auf. Bisher besucht nur ein Kind mit einer anderen Muttersprache die Kindergruppe. Bis vor kurzem wurden nämlich nur deutsch- und türkischsprachige Kinder aufgenommen. Bis wir Eltern die Öffnung für alle Kinder durchsetzen konnten. Das pädagogische Konzept verträgt diesen offenen Zugang.

Die Schnabelsprache

Alle Kinder der Gruppe verstanden spätestens nach ein paar Wochen alles Wesentliche in beiden Sprachen. Auch das Kind, das zu Hause mit Albanisch aufwächst. Und sie sprechen so, wie ihnen der Schnabel wächst und wie es dem jeweiligen Gegenüber angemessen ist. Die Kinder lernen das mit aller Selbstverständlichkeit spielerisch.

Vielleicht ahnen Sie es schon: Mein Sohn besucht den angeblich «türkischen» Kindergarten, der angeblich schon zwei Mal «gefloppt» sein soll. Ich würde mir wünschen, dass Kinder aus Familien wie jener der auf die Erkennung von Multikulti-Träumereien spezialisierten Frau Doktor die Kindergruppe besuchen. Ganz ernsthaft. Diese Kinder sollten auch die Möglichkeit bekommen, wichtige sprachliche und soziale Zusatzqualifikationen zu erwerben. Und nicht in der Volksschule mit der belastenden Situation konfrontiert werden, neben dem Leistungsdruck auch noch die ihnen fremde Sprachenvielfalt unvorbereitet bewältigen zu müssen.

Ihren Eltern würde wahrscheinlich klar werden, dass der regelmäßig von der Wiener FPÖ vorgeschlagene und inzwischen von der ÖVP unterstützte Vorschlag eines Deutschzwangs in der Schulpause unsinnig ist. Sinnvoll ist es, Schülerinnen und Schüler dazu anzuhalten, so zu kommunizieren, dass möglichst niemand ausgeschlossen wird. Es ist nicht fair, Türkisch zu sprechen, wenn ein deutschsprachiges Kind daneben nichts versteht. Es ist genauso nicht fair, das beste Wienerisch im Railjet-Tempo auszupacken, wenn ein tschetschenisches Kind da noch nicht mithalten kann. Die Kindergartenkinder in der Gruppe meines Sohnes haben das schon verstanden. Und sollten sie doch einmal ihre Sprachenkenntnisse zur Ausgrenzung missbrauchen, müssen Eltern und Pädagog_innen sie eben zurechtweisen. Gäbe es mehr mehrsprachige Kindergruppen, würden sich die Schulen viele Probleme und auch Kosten für zu späte Gegenmaßnahmen ersparen. Ein Traum wäre das! Träumen ist ja grundsätzlich nichts Schlechtes. Im Gegenteil.

«Bilingualer Kindergarten in Ottakring nicht zu toppen!»


Leider wird mein Traum, dass auch Kinder aus FPÖ-Familien mit meinem Sohn die Kindergruppe besuchen, in absehbarer Zeit nicht in Erfüllung gehen. Es gibt nämlich keine freien Plätze mehr. Komischerweise hat die FPÖ diesen Herbst vergessen, das zu tun, was sie in den ersten beiden Jahren des Bestehens der Kindergruppe gemacht hat: der Öffentlichkeit mitteilen, ob es noch freie Plätze in der zweisprachigen Kindergruppe gibt und daran Erfolg oder Misserfolg messen. Ich liefere die unterlassene FPÖ-Schlagzeile gerne nach: «Bilingualer Kindergarten in Ottakring nicht zu toppen – leider keine freien Plätze mehr!»

 

Träume ich den ganzen Tag von Multikulti? Oder ist es die Realität, die ich täglich in den Parks, auf den Straßen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Abholen meines Sohnes aus der Kindergruppe erlebe? Vielleicht sind es andere, die da träumen? Doktor Belakowitsch-Jenewein zum Beispiel. Wovon träumt sie? Von Einsprachigkeit? Von Reinrassigkeit?

 

Oder einfach von der guten alten Zeit? Die Zeiten, in denen Wien weitgehend einsprachig war, liegen weit zurück. Zuagraste aus Gegenden, in denen kaum Deutsch gesprochen wurde, machten schon vor hundert Jahren ein Drittel der Wiener Bevölkerung aus. Vor siebzig Jahren haben es die Nationalsozialist_innen zwischenzeitlich geschafft, den Traum vom rein deutschen Wien weitgehend zu verwirklichen. Innerhalb weniger Jahre ist er aber wieder geplatzt. Ich gehe davon aus, dass den Traum der Nazis heute zum Glück auch Freiheitliche nicht mehr träumen.

 

Zwischen dem Hauseingang und der Eingangstür zur Kindergruppe unseres Sohnes hat jemand anonym seinen Traum auf die Wand gesprüht: «Türken raus!» Seither beschleicht mich manchmal ein mulmiges Gefühl, wenn ich mit meinem Sohn an der inzwischen wieder gereinigten Wand vorbeigehe. Der sprühende Träumer hat vermutlich einen Haustorschlüssel. Die Polizei hat sich bereit erklärt, bei ihren Patrouillen öfter in der Gegend vorbeizuschauen. Zum Glück! Auch wenn es traurig ist, dass die Polizei eine zukunftsweisende Kleinkindereinrichtung extra schützen muss.

 

Sieht man von der Nazizeit ab, liegt die Zeit, in der Wien noch fast ausschließlich Deutsch sprach, mindestens so weit zurück wie die Industrialisierung. Will die Rechte also nicht – wie die aus Oberösterreich nach Wien emigrierten Musiker von Attwenger singen – «zruck ins vurige Jahrhundert», sondern gar zurück ins Mittelalter? Das schreit dann doch nach einer weiteren Schlagzeile: «Belakowitsch-Jenewein und Co. sollen teure Monokulti-Träumereien aufgeben!»