In der sardischen Provinz Nuoro liegt auf 23.000 Hektar das ausgedehnte Dorf Orgosolo, das für seine Murales berühmt ist.
Nicht wegen der herrlichen Lage am Fuße des Berges Lisorgoni und den zahlreichen Quellen kommen scharenweise Touristen hierher. Auch nicht, weil sich der Ort auf einer bewaldeten Mulde ausdehnt und ein bekömmliches Klima hat. Auch die Flora und Fauna dieser Gegend sind ganz besonders. Doch das Interessanteste an Orgosolo ist die Exotik seiner Wandgemälde, Murales genannt.Picasso ist nicht hier gewesen, beim Herumspazieren erinnerten mich die Bilder trotzdem mitunter an ihn und den Kubismus. Ursprünglich kommt das Graffiti aus der Höhlenmalerei, und die heutige Graffitiszene hat sich in den amerikanischen Ghettos entwickelt.
Was ist New York oder Buenos Aires gegen die Zeichen an der Wand in diesem Ort. Es sind weit über hundert, und alle sprechen Bände. Dabei handelt es sich um einen Rückblick in die Geschichte unserer Welt in bunten Farben. Es geht aber auch um das Hirten- und Dorfleben und um die Erhaltung der sardischen Sprache.
Die Menschen lebten hier hauptsächlich von Schafzucht oder Wein- und Gemüseanbau, ehe der Tourismus seinen Einzug hielt. Trotz seiner rasanten Ausbreitung ist die ursprüngliche Gastfreundlichkeit der Einwohner_innen ungebrochen und herzlich.
Was Sardinien und besonders das Landesinnere um Orgosolo berühmt-berüchtigt werden ließ, waren die Banditen. Die Hirtengesellschaft hatte im ewigen Kampf ums Dasein einen eigenen Rechtskodex entwickelt. Diese Ordnung basierte auf dem Prinzip des Ausgleichs. Wie du mir, so ich dir! Jede Beleidigung musste proportional gerächt werden, auch wenn Blut floss. Familienfehden konnten Jahrzehnte dauern. Blutrache, «disamistade», gab es hier noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus. Wo der Staat eingriff und versuchte, seine Normen durchzusetzen, entstanden neue Konflikte, und die bestehenden wurden noch schlimmer. Polizei und Spezialtruppen suchten Mörder, die nach dem dörflichen Ehrenkodex ihre Pflicht getan hatten. Diese Leute gingen in den Berge, wurden als Rechtlose gejagt.
Die Probleme der Schäfer lagen auch im gemeinsamen Kampf gegen Gutsbesitzer und Regierung, die der unterentwickelten Landwirtschaft keine Hilfe leisten wollten.
Einige Murales sind Erinnerungen an den Kampf gegen das Banditenwesen am Ende des 19. Jahrhunderts.
Im Übrigen ist der Frust der Sarden über die Bevormundung durch Rom fast gewaltlos geblieben. Natürlich hat es trotz Regionalregierung in Cagliari bis 1982 vereinzelt bewaffnete Rebellionen gegeben, und auch die knapp 4400 Orgolesi fühlen sich, wie alle Sarden, nicht als Italiener.
Auch davon spricht das begehbare Bilderbuch, das einst ein Banditennest gewesen sein soll. Und auf dem Friedhof gibt es viele Gräber mit Aufschriften wie «erschossen von …» oder «ermordet am …», was den Touristen Gänsehaut bereitet.
Die meisten Probleme, Protest, Wut, Hoffnung und Erinnerung haben sich in der Kunst niedergeschlagen. Politische Anspielungen und internationale Unmenschlichkeiten wie Terrorismus sind spielend zu enträtseln. Aber auch der sardische Alltag sowie Legenden und Märchen der dortigen Gegend werden an den Hauswänden nacherzählt. Die bösen Geister der Ahnen, «Sos bobbois», sollen nachts Schäfer und Herden gepeinigt haben.
Begonnen hat das Phänomen der Wandmalerei bereits im Jahr 1968 durch die anarchistische Theatergruppe «Dioniso» aus Mailand, die im Zentrum von Orgosolo die ersten politisch gefärbten Arbeiten ausgeführt hat. Danach war Pause bis 1975, als man den dreißigsten Jahrestag des Partisanenkampfes gegen den Nazifaschismus und den Tag der Freiheit feierte.
Lehrer und Schüler_innen der örtlichen Mittelschule bemalten Flugblätter mit Beschriftungen, die nicht nur im Schulzimmer, sondern auch an den Fassaden angebracht wurden. Wegen der Witterungseinflüsse begann man unter großem Anklang bei der Bevölkerung direkt auf die Außenmauern von öffentlichen Gebäuden und Privathäusern zu malen.
Die Ausführung lag in den Händen von Francesco Del Casino, zwar aus Siena kommend, aber viele Jahre in Orgosolo beheimatet, unter Mithilfe seiner begabtesten Schüler_innen. Fast zwanzig Jahre unterrichtete dieser Mann hier Kunstgeschichte und Zeichnen. Seine Schlagwörter u. a.: Antifaschismus und Kapitalismus.
Andere Künstler wie Diego Asproni oder Massimo Cantoni trugen mit ihren Arbeiten zur Verschönerung des Dorfes bei. Ein Autodidakt, der in Orgosolo hauptberuflich im Forstwesen tätig war, Pasquale Buesca, hat es über naive Wandmalereien zu Ausstellungen im In- und Ausland gebracht. Der mitwirkende Künstler Vincenzo Floris ist zwar in Orgosolo geboren, wohnte und arbeitete in der Stadt Nuoro. Allmählich haben sich auch deutsche Tourist_innen und ein Österreicher an den Hauswänden verewigt.
Und die Gemeindeverwaltung hat einst Arbeitsgruppen von Jugendlichen aus allen Sozialschichten eingeladen, mit neuen Ideen Wandbilder in Graffiti-Malerei zu schaffen.
Im Allgemeinen wird bei den Murales die Technik der Nass-Malerei angewandt. Die verschiedenen Pigmente werden direkt auf die Wandoberfläche aufgetragen, so dass die Farben vollkommen aufgesogen werden. Andere Werke wurden dagegen auf große Granitfelsen gemalt, die mitten in der freien Natur stehen und sich absolut der Landschaft anpassen.
In den Straßen des Zentrums mit der fast anarchisch wirkenden Bausubstanz sind diese Murales dicht an dicht, besonders in der Hauptstraße, dem Corso Repubblica.
Im ältesten Teil des Dorfes «Haspiri» findet man ländliche Häuser mit kleinen Balkonen und Innenhöfen zur Unterbringung der Schafe, und selbstverständlich auch die prächtigsten Wandgemälde.
(Zwi-Ti:) Gegen Gesellschaftsnormen, Golf-Krieg, Militär-Schießplatz …
Eines der berühmtesten Murales von Del Casino wurde aus Anlass der 200-Jahresfeier der Französischen Revolution ausgeführt und stellt eine Frau der Revolution dar, geschmückt mit Kokarde, die Trikolore in der Hand. Ein anderes nimmt sich dem Leid des chinesischen Volkes an. Dann gab es noch die so genannten Bienen, «Le Api», eine Frauengruppe, die sich mit Bildern tadelnd gegen Gesellschaftsnormen wehrte.
Zu den angesprochenen Themen gehören der Vietnamkrieg, der Golfkrieg und die Franco-Diktatur ebenso wie New York am 11. 9. 2001 und die Neutronenbombe.
Natürlich sind über die Murales von Orgosolo schon Doktorarbeiten geschrieben worden, wobei der örtliche Kampf gegen ein Nationalpark-Projekt und die Ansprüche der armen Leute um die öffentlichen Weidegebiete immer Erwähnung finden. Naturkatastrophen wie Dürre, Feuersbrünste oder eine Cholera-Epidemie haben sich ebenfalls bildlich niedergeschlagen. Letzteres an der Wand des Ambulatoriums.
Im Juni 1969 sollte ein Schießplatz für Militärübungen mitten in den öffentlichen Weiden aufgestellt werden, aber die Bevölkerung von Orgosolo boxte einen Volksentscheid durch, und das Projekt musste zurückgezogen werden. – Ein starkes Gemälde mit einem Text des Autors Antonio Sini. Viele Dichter, darunter auch Peppino Mereu und die Nobelpreisträgerin Grazia Deledda sind verewigt worden.
Einige Murales sind bei Gebäudeumbauten leider verloren gegangen, aber es kommen ständig neue hinzu. Mein Wunsch und der aller Orgosoli: Ein langes Leben den Wandbildern!