Stadtbürger_innenschaft: Teil 3/4, Toronto
Seit genau vier Jahren ist das kanadische Toronto eine «Sanctuary City». Unabhängig von ihren Aufenthaltspapieren sollen alle Bewohner_innen städtische Angebote in Anspruch nehmen können. Der Sieg ist errungen, aber wie rosig sieht die Praxis aus? Lisa Bolyos hat in Toronto nachgefragt.
Foto: Noone is illegal Toronto
Sobald Justin Trudeau einen seiner gut inszenierten Auftritte absolviert, bleibt die Facebook-Community am Like-Button hängen. Trudeau ist smart, hübsch, medienaffin, ökonomisch zwar Upper Class, aber kulturell ein Hipster. Er ist der jüngste Premierminister in der Geschichte Kanadas, er hat eine Ministerin mit Fluchtbiographie, vier Sikhs und einen Inuit ins geschlechterparitätische Kabinett geholt, hat eine (gut ausgewählte) Gruppe syrischer Flüchtlingen mit offenen Armen empfangen und sich bei den First Nations von Kanada für die Verbrechen entschuldigt, die an ihnen begangen wurden. «Das stimmt schon», sagt Nathan Prier, «aber er hat auch dem Bau von zwei Ölpipelines und einem Staudamm auf First-Nation-Land zugestimmt. Also fragt man sich letztlich: Was hat man von den großen Gesten?»
Nathan Prier ist bei «No One Is Illegal» («Kein Mensch ist illegal») in Toronto aktiv, einer Gruppe, die für die Rechte von Migrant_innen mobil macht. Trudeau, relativiert er, sei nicht mehr als ein weiterer liberaler Premier, der das Grenzregime ausbaue, Kriege finanziere und Freihandelsabkommen abschließe. Im Moment – im Nachbarland wütet Trump – hat Kanada es besonders leicht, sein Image als Wiege des Fortschritts zu pflegen. Dass aus einem «Sanctuary Toronto» unter Trudeau jedoch ein ganzes «Sanctuary Canada» würde, hält Nathan Prier für eine schöne Vorstellung, aber letztlich für «very unlikely» – sehr unwahrscheinlich.
Vor zweieinhalb Jahren (Augustin Nr. 378) hat Philip Taucher an dieser Stelle berichtet, wie Toronto dazu kam, eine Sanctuary City zu werden. Wir haben nachgefragt, was das im Alltag geändert hat.
Eine Stadt als Zufluchtsort
Was ist eine Sanctuary City? «Sanctuary», wie es in den USA und Kanada verwendet wird, bedeutet, dass städtische Behörden nicht nach dem Aufenthaltsstatus einer Person fragen, mit der sie amtlich zu tun haben. Die Idee dahinter ist einerseits, allen Stadtbewohner_innen Zugang zu Einrichtungen der Bildung, der Gesundheit und der Sicherheit (etwa zu Frauenhäusern) zuzusichern, ohne dass sie sich damit der Überprüfung durch Immigrationsbehörden aussetzen. Umgekehrt kann es auch darum gehen, die Arbeit von Behörden wie der Polizei zu erleichtern. Die moniert oftmals, dass kooperatives Verhalten in der Strafverfolgung verweigert wird, weil Betroffene oder Zeug_innen um ihre eigene und die Aufenthaltssicherheit der angezeigten Person fürchten. Simples Beispiel: Eine Frau, die häusliche Gewalt erlebt, wird damit nicht ins Frauenhaus oder zur Polizei gehen, wenn dort die Immigrationsbehörde wartet und nach Statusabfrage ihre oder die Abschiebung ihres Partners einleitet.
Die erste moderne Sanctuary City (das Prinzip der Stadt, die Zuflucht bietet, ist Jahrtausende alt) war San Francisco. 1989 hat die Stadt an der US-Westküste sich selbst dazu erklärt, um Flüchtlingen aus den «Dirty Wars» in Lateinamerika Sicherheit zu bieten. Die Flüchtlinge waren von Ausweisung aus den USA bedroht – offiziell fand ja kein Krieg statt.
Bis heute hat Kalifornien in Sanctuary-Angelegenheiten die Nase vorn. Während Ende Jänner in Miami die erste Sanctuary City auf Trumps Aufruf hin umgefallen ist, prüft Kalifornien eine Ausweitung des Sanctuary-Status auf den gesamten Bundesstaat, und die Stadt San Francisco hat überhaupt gleich Klage gegen Trump eingereicht.
Aus dem Papier muss Praxis werden
Karin Baqi ist Anwältin. Sie arbeitet in der «South Asian Legal Clinic» in Toronto, einer juristischen Beratungsstelle, deren Aufgabenbereich vor allem rechtliche Belange der Immigration und des Einkommens umfasst. Auch Baqi war als Aktivistin von «Kein Mensch ist illegal» in die Mobilisierungskampagne involviert, die die Stadtregierung schließlich davon überzeugen konnte, die Sanctuary City auszurufen.
Der erste Aufschrei kam in Toronto schon Jahre vorher von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schutzhäusern. Die Einwanderungsbehörde CBSA (Canada Border Services Agency) hatte Kinder in Kindergärten festgehalten, um deren Eltern zu zwingen, sich zur Abschiebung zu stellen. Diese Praxis hat «das ganze liberale Toronto entsetzt», sagt Prier. Der Startschuss für die Errichtung sicherer Räume, sozusagen Bannmeilen für die Behörden, war gegeben. «Don’t ask, don’t tell» wird das Prinzip genannt, nachdem die Einrichtungen nun handeln müssen, das heißt: Der Aufenthaltsstatus der Servicenehmer_innen wird nicht abgefragt, somit kann auch niemand in die Pflicht geraten, die CBSA zu benachrichtigen.
Und wie sieht die Praxis aus? «Es herrscht weniger Angst.», sagt Nathan Prier. «Die Menschen trauen sich, Serviceangebote in Anspruch zu nehmen.» Karin Baqi zieht nach vier Jahren nicht nur ein positives Resümee. Erst kürzlich habe sich der Bürgermeister von Toronto angesichts von Trumps Angriffen zwar wieder mit «voller Überzeugung» hinter das Sanctuary-Prinzip gestellt. Aber wie wird aus einem schmucken Papiertiger eine sinnvolle Praxis für die Betroffenen?
Beispielsweise hatte die Stadt zugesagt, ihre Angestellten zu schulen; die Information darüber, was die Neuerungen konkret bedeuten, muss ja unter die Leute gebracht werden. Nichts dergleichen ist geschehen: «Die sitzen im Rathaus herum und sagen, alles ist jetzt für alle zugänglich! Aber es ist doch auch ihre Verantwortung, diese Zugänglichkeit in die Praxis umzusetzen.» Eine fehlende Information, die bald zur Fehlinformation wurde, betraf die ganz zentrale Frage, was «Sanctuary» denn nun abdecke und was nicht. In einem ersten Infoblatt hat die Stadt alle Services aufgezählt, die «angstfrei» zugänglich sind, darunter war auch die Polizei. «Die Leute dachten also, sie könnten jederzeit und mit jedem Problem zur Polizei gehen, ohne Schwierigkeiten mit dem Aufenthalt zu bekommen. Das stimmt aber definitiv nicht.»
Wenn Sicherheit für alle gilt
Noch immer komme es vor, dass Menschen, die sich an Behörden wenden, nach ihrem Status gefragt würden, und noch immer gebe es wegen «falschem» Status reihenweise Fälle von Zurückweisungen von Serviceeinrichtungen. Die Polizei habe 2015 einen ersten Bericht erstellt, in dem sie das Gelingen der Sanctuary-Politik bestätigte; zu Unrecht, wie Baqi meint. «Wir wissen doch, dass sie nach wie vor Leute nach dem Prinzip des ‹racial profiling› anhalten, und ebenso, dass sie der Einwanderungsbehörde CBSA Informationen über Aufenthaltstitel weitergeben.» Das Problem, sagt Baqi, sei nämlich, dass die Polizei sich vorbehalte, in «unumgänglichen» Fällen trotz Sanctuary-City-Prinzip die CBSA zu informieren – und sich natürlich auch vorbehalte, diese «Unumgänglichkeit» selbst zu definieren. So sei es den Betroffenen fast unmöglich, sich mit Erfolg gegen solche Polizeipraxis zu wehren. «We can raise a stink», will heißen: Wir können laut und öffentlich aufschreien – aber das ist schon alles. Und das ist viel Arbeit.
Bis Mai dieses Jahres soll es Interimsberichte geben. Man darf neugierig bleiben, was die Beteiligten für Schlüsse aus den ersten vier Versuchsjahren ziehen; ob nur Schultern geklopft oder auch Verbesserungsmaßnahmen ergriffen werden. Karin Baqi bleibt der Sache trotz allem positiv gesonnen: «Allein dass wir die Debatte lostreten konnten, ist viel wert, auch wenn jetzt ein bisschen die Energie raus ist.» Das findet auch Nathan Prier: «Das Ziel ist letztlich, ein Klima der Sicherheit zu schaffen: Die Stadtbewohner_innen sollen sich bestärkt fühlen, am Stadtleben teilzunehmen.» Wenn das die Art Sicherheitskonzept wäre, die jede Stadt zum Prinzip erhebt – dann wäre doch schon viel gewonnen.
In der vierten und letzten Folge (Augustin 431) bleiben wir in Wien: Soll Wien eine Stadt für alle sein? Und wie würde ein «Wiener Stadtausweis» den Alltag erleichtern?