Stadt-Wahrnehmungvorstadt

Wenn beim Fotografieren Farben bedeutungslos sind

Blinde Menschen, die mit Fotoapparaten durch die Stadt schlendern, provozieren bei sehenden Stadtbenützer_innen ein Fragezeichen. Lisa Puchner erhielt von zwei Teilnehmer_innen des Blind Photography Project Antworten.

Foto: Mathias Schmuckerschlag

Durch eine Stadt streifen, eine Stadt erkunden – je nach Vorliebe oder Sozialisierung denken die einen an eine zielstrebige Wanderung zu Sehenswürdigkeiten, die anderen an eine Rundfahrt mit dem Touri-Bus, wieder andere an ein Flanieren durch Gässchen in der Hoffnung, Interessantem zu begegnen. Allen gemein ist meist eine visuelle Fokussierung. Tatsächlich folgt die Stadtwahrnehmung vieler Menschen auf den ersten Blick vor allem visuellen Reizen: Der Stadt-Tourismus wäre nichts ohne die spektakulären, gut zu vermarktenden Stadtansichten; die Architektur, welche unser tägliches Stadt(er)leben prägt, wird im Vorbeigehen als schön oder auch weniger schön anzuschauen empfunden; Stadtfotografie als weit verbreitetes Hobby oder Arbeitsfeld steuert ihren Teil zur altbekannten täglichen Bilderflut bei. In dieser Dominanz visueller Auseinandersetzung mit der Stadt sind blinde Menschen nicht mitgedacht und als vermeintlich «nicht-visuell» der angeblich normalen Erfahrungswelt entrückt. So schreibt Georgina Kleege: «The most reductive and destructive of all the stereotypes about blindness is that our experience and consciousness are so far from whatever is considered normal that we might as well have come from another planet.» Die US-amerikanische Autorin war dann auch eine große Inspirationsquelle für das Blind Photography Project (BPP) von Alejandra Loreto, welches an dieser oft bestehenden Kluft zwischen Sehenden und Blinden ansetzt. Den Impuls für das Projekt gab eine Fotografie des blinden Fotografen Ergen Bavcar. Noch nie zuvor von fotografierenden Blinden gehört, kamen große Neugier und die typischen Fragen nach dem Wie und Warum auf. Aus diesem Interesse der aus Venezuela stammenden Fotografin und Architektin entwickelte sich schließlich das BPP: «Photography by the visually impaired is in the remotest of our imagination and most of us are unaware that they can also see, they just do it differently.»

2015 gestartet und in Wien und Caracas durchgeführt, bricht dieses Projekt mit einer von falschen Vorstellungen bestimmten Wahrnehmung von Blindheit – mit Hilfe einer Kamera und Stadtspaziergängen. «Das hat für viele Menschen Grenzen gesprengt, für Sehende noch mehr als für Blinde. Es gibt blinde Leute, die fotografieren. Das wissen Sehende nicht und fragen sich, wenn sie mich beim Fotografieren auf der Straße sehen: Was tut eine Blinde mit der Kamera?», so Angela Engel, eine der beiden blinden Teilnehmenden in Wien. Nach ersten Treffen zum Kennenlernen brach sie sowie Mathias Schmuckerschlag jeweils dreimal mit Alejandra Loreto zu Stadtspaziergängen auf. Mit Kamera um den Hals gehängt wanderten sie durch die Gegend, eine abgemachte Strecke gab es nicht. Dahinter steht die Idee vom Dérive, einer Art des experimentellen und planlosen Durch-die-Stadt-Driftens nach Guy Debord. Dementsprechend war ein Motiv des Projekts – durch das Herumstreifen mit der Kamera –, Wien zusammen als sehende und blinde Menschen kennenzulernen, sich anzueignen, und dabei verschiedene Möglichkeiten des Wahrnehmens auszutauschen.

 

Eine einzige Nahaufnahme

«Wir haben abgemacht: Wenn ich etwas wahrnehme, erzähl ich, was mir auffällt. Wenn Alejandra etwas Erzählenswertes sieht, dann sagt sie es mir. Und je nachdem hab ich dann Fotos aufgenommen. Man hat ja einen Grund, warum man ein Foto macht – vor allem, wenn man nichts oder kaum sieht. Bei mir ist diese Lust am Fotografieren durch das Projekt mehr geworden. Das sind dann Erinnerungen oder Geschichten, die man mit Sehenden teilen kann», erzählt Angela Engel. Sie hat auf einem Auge einen Sehrest mit stark eingeschränktem Blickfeld und erkennt in der Ferne oft kontrastreiche Umrisse. So bilden viele ihrer Fotos weite Ansichten oder starke Lichtunterschiede ab, wie Dächer gegen den Himmel: «Ich kann Dinge fotografieren, die ich auf meine Art wahrnehme, und die will ich einfangen. Einmal waren wir auch auf einer Brücke in der Innenstadt, am Geländer war ein super schönes, tastbares Relief. Das war die einzige Nahaufnahme von mir. Ich hab’s so gemacht wie Mathias: mit der Hand ertastet, wo es ist, und dann die Kamera da­rauf gerichtet.»

Mathias Schmuckerschlag interessierte das Projekt vor allem wegen der Möglichkeit, sich mit neuen Leuten – auch aus anderen Kulturkreisen – auszutauschen. Die Technik hinter den Kameras und Objektiven findet er faszinierend – professionelle Fotoapparate sind ihm aus der Kindheit von seinem Vater bekannt. Fotografieren als Blinder steht er allerdings kritisch gegenüber: «Ich war am Anfang sehr skeptisch eingestellt. Ich bin geburtsblind; Rot, Grün, Schwarz, Blau sind für mich Parteifarben, aber assoziieren tu’ ich damit nichts außer, was man halt als Blinder auswendiglernt wie ‹Die Wiese ist grün›. Ich kann es ja – auch ob ein Foto gelungen ist – empirisch nicht belegen. Ich will Fotos nur dann herzeigen, wenn sie wirklich Sinn ergeben und eine Geschichte erzählen.» Schließlich wurden akustische Signale und ihm bekannte Dinge zu Anknüpfungspunkten bei den Foto-Spaziergängen. Mit der Zeit und dem Ausprobieren habe das Fotografieren dann auch mehr Sinn bekommen, da auf den Fotos das war, was gezeigt werden sollte. Zum wichtigen Motiv wurde dabei die akustische Ampel. So entstand eine Reihe möglichst von allen Seiten und nah aufgenommener Fotos akustischer Ampeln: Um die verschiedenen Firmen, den Auslöseknopf mit dem bei Grün vibrierenden Richtungspfeil und das taktile Relief, welches die vorhandenen Fahrspuren auf der Straße abbildet, zu zeigen. Manche der Ampelsysteme und Anbieter seien besser, manche katastrophal; so wollte er auch wirklich alle und deren Unterschiede auf den Fotos abbilden, meint Mathias Schmuckerschlag.

 

Die Ampel-Diskussion

Die Fotos der Ampeln sind schließlich Aufhänger für eine Diskussion, die ihn auch als Fachbereichsleiter für Mobilität und Infrastruktur im Verein Blickkontakt beschäftigt: «In Österreich ist oft die Beschwerde eines Anrainers wegen lauten Tickens mehr wert als die Barrierefreiheit und das Konzept dahinter.» So wird in Wien diskutiert, bei neuen Modellen das Akustik-Signal leiser zu schalten, laut solle es erst ausgelöst durch einen Chip oder Euro-Key werden – dafür dann aber auch, wie versprochen wurde, in der Nacht, nachdem jahrelang das akustische Signal nächtens einfach ausgeschaltet war. In Linz wurde generell ein Handsender eingeführt; es gibt kein Auffindesignal, die Ampel ist nicht zu hören, bis sie eine blinde Person per Knopfdruck mit dem Sender auslöst. Dabei ist das Auffindesignal zur Orientierung wichtig. Je nach Stadt und dort installiertem System muss also zudem meist ein anderes, oft kostenpflichtiges Tool von den blinden Stadtbewohner_innen verwendet werden. «Es geht dabei ums Prinzip – zahlst du für jedes Kopfheben, wenn du auf die Ampel schaust? Es sind ja keine Blindenampeln, sondern Akustik-Ampeln: jeder, der auf seinem Weg gerade Pokemón GO spielt und nicht schaut, kann genauso drübergehen, weil er ja das Tatatata hört. Obwohl die Verkehrswarnanlagen von Steuergeldern errichtet werden, sollst du als blinde Person extra noch für Fehllösungen, die dem Konzept von Barrierefreiheit widersprechen, zahlen – für Sender, die du immer mitnehmen musst – und dran denken, dass Batterien drin sind.»

Wie die Fotos von den Ampeln haben sich die Motive der Bilder und deren Geschichten im gemeinsamen Durch-die-Stadt-Streifen ergeben. Diese ausgedehnten Spaziergänge boten letztlich vor allem auch Raum für eine andere Stadterfahrung, eine neue Stadtwahrnehmung. «Es war extrem spannend, neue Teile von Wien kennenzulernen, neue Details zu erfahren», erzählt Angela Engel. «Die Distanzen, wie weit ist es vom Belvedere bis zum Karlsplatz, geht’s bergauf oder bergab, wie ist der Boden, Kopfsteinpflaster oder Asphalt, viel oder kein Verkehr … Du spürst schließlich einfach eine Stadt viel mehr, wenn du zu Fuß unterwegs bist.»

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