StadtSpionin unterwegsvorstadt

Sabine Maier über ihre Wien-Entdeckungen im Vorbeigehen

Es ist Samstag morgen. Ich beginne meinen Rundgang durch die Stadt, um neue Shops und Lokale zu inspizieren. Mitte nächster Woche erscheint «Die StadtSpionin» mit aktuellen Wien-Tipps, die Leserschaft will schließlich versorgt werden.

 

Foto: Mario Lang

Ich beschließe, im «eigensinnig» zu starten, das vor zwei Tagen eröffnet hat. Das ist ein riesiges Loft in einem Barockhaus, drinnen Avantgarde-Mode in schwarz und grau. Der Boden purer Beton, die Mauern abgeschlagen und unverputzt, Möbel aus schwarzem Stahl, Street Photography hängt an den Wänden. Cool, lässig, New York lässt grüßen. Noch bevor mir die junge Besitzerin die Mode vorführt – «Alles Designer, die es sonst in Wien nicht gibt» -, muss sie mir allerdings etwas Besonderes zeigen. «Das haben wir beim Abschlagen der Wände gefunden», meint sie und deutet auf ein wunderbares Fresko. Das Denkmalamt war schon hier, genauere Untersuchungen werden folgen. Schließlich stammen Teile des Hauses aus dem Mittelalter. Ach ja und überdies, da schräg gegenüber liegt die Pestgrube, in die der liebe Augustin, ein stadtbekannter Bänkelsänger, 1679 geworfen wurde und trotzdem die Pest überlebte, und übrigens hinten im Haus wohnt der ehemalige Bundeskanzler.

So, jetzt wissen Sie, wie Wien funktioniert. Während man überall auf der Welt in aller Ruhe einen Concept Store mit Avantgarde-Mode und abgeschlagenen Wänden eröffnen kann, drängt sich in Wien gleich wieder die Stadt mit ihren Geschichten und Geheimnissen in den Vordergrund. Selbst die unscheinbarsten Dinge können hier ungeahnte Tragweite entwickeln, ein Spitzentaschentuch etwa. Das liegt unter zigtausend anderen Gegenständen im Museum für Angewandte Kunst (MAK) – weitgehend unbemerkt. Das Museum verrät uns immerhin, dass es Bertha Pappenheim gehörte.

Bertha Pappenheim, 1859 geboren und überdurchschnittlich intelligent, wurde als junge Frau krank: Halluzinationen, Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen. Der Wiener Arzt Josef Breuer nahm sie in Behandlung und diagnostizierte Hysterie. Unvorstellbare 1000 Therapiestunden und zwei Jahre später galt sie als geheilt – und die junge Wissenschaft der Psychoanalyse hatte ihren ersten dokumentierten Fall. Bertha Pappenheim ist Anna O., der von Sigmund Freud oft zitierte Beginn der psychoanalytischen Gesprächstherapie – und laut Freud die «eigentliche Begründerin des psychoanalytischen Verfahrens». 1888 übersiedelte Bertha Pappenheim nach Frankfurt – und wurde ein zweites Mal berühmt. Diesmal aber nicht als anonymisierte Krankengeschichte, sondern als Kämpferin für die Rechte der jüdischen Frauen. In ihrer Freizeit war die Frauenrechtlerin ständig auf der Suche – nach Spitzen. Geklöppelt, gehäkelt und genäht, von berühmten Manufakturen oder einfachen Frauen hergestellt. 1935 schenkte Pappenheim ihre gesamte Kollektion von 1850 Spitzen dem Museum. Und dort, in der «Studiensammlung Textil», sind einige Stücke ausgestellt: eine runde Nähspitze, ein Kopfschmuck aus 1700, ein spitzenbesetztes Taschentuch. In Wien können sich hinter den unscheinbarsten Dingen große Geschichten verbergen.

Andere Geheimnisse dieser Stadt liegen hinter einem einfachen Drahtzaun versteckt. Wie etwa – kein Witz! – ein echter Urwald. Der Johannser Kogel, wie die 45 Hektar große Wildnis offiziell heißt, liegt gut getarnt mitten in einem riesigen Stadtwald, dem Lainzer Tiergarten, und ist der wahrscheinlich einzige innerstädtische Urwald der Welt. Seit über 100 Jahren wird am Johannser Kogel «nix mehr gemacht» (Förster-Jargon). Seit 1972 ist der kleine Berg ein offizielles, aber geheim gehaltenes Urwaldgebiet. Das bedeutet: Das Reservat wird komplett seiner natürlichen Entwicklung überlassen. Kern des Urwalds ist ein rund 400-jähriger Eichenbestand, Baumriesen mit einem Stammumfang von mehr als 4 Metern, deren fantastische Formen wie Bilder aus dem Film «Herr der Ringe» wirken. Die Eichen standen hier schon, als der Sonnenkönig Ludwig XIV. geboren wurde oder Galileo als erster Mensch ein Teleskop auf den Himmel richtete. Der geheimnisvolle Wald wird von den Wiener Förster gehütet – und ist ein paar Mal im Jahr mit Führung zu betreten.

Die Dirnen des Spittelbergs hatten zur Selbsthilfe gegriffen

Zugegeben, mit all ihren G’schichtln hat diese Stadt etwas sehr Verführerisches. Wo immer man anstupst, tut sich wie in einem Adventskalender ein neues Kästchen auf. Selbst zum omnipräsenten Kaiserhaus samt Adel, dem wir den ganzen imperialen Prunk dieser Stadt verdanken, lassen sich noch Gustostückerl finden. Da schrieb etwa Lady Montagu 1716 in einem ihrer Briefe aus Wien: «Es ist ein eingeführter Brauch für jede Dame, zwei Gatten zu haben. Einen, der den Namen gibt und den anderen, der die Pflicht erfüllt.» Im Klartext: Jede adelige Ehefrau im barocken Wien hielt sich einen Liebhaber, zu offiziellen Anlässen wurde sie mit beiden Männern eingeladen. Und was tat der Kaiser? Der besuchte den Spittelberg. Joseph II. trieb sich regelmäßig in der Vorstadt herum, denn von den 138 Häusern des Spittelbergs beherbergten 60 als Gasthäuser getarnte illegale Bordelle. Heute ist der Spittelberg mit seinen renovierten Häuschen eines der begehrtesten Viertel von Wien. In der «Witwe Bolte», einem Lokal in der Gutenberggasse, findet sich noch immer eine Wandmalerei aus 1778: «Durch dieses Tor im Bogen ist Kaiser Josef II geflogen.» Die Dirnen des Spittelbergs hatten zur Selbsthilfe gegriffen: Die Zahlungsmoral des hohen Herrn war schlichtweg miserabel.

Dafür hat er wie alle Habsburger der Stadt einige prachtvolle Gebäude hinterlassen. Für jemanden, die zuvor in Berlin lebte, ist Wien ja etwas gewöhnungsbedürftig: eine Metropole, die immer hart an der Kitsch-Grenze schrammt. Verstanden habe ich diese Stadt erst, als ich einmal vom Café Landtmann auf den berühmten Christkindlmarkt gegenüber schaute. Glühwein, Lichter, das Rathaus als größter Adventkalender der Welt und hunderte leuchtende Lampions in den Bäumen des Rathausparks. Kommentar des Oberkellners: «Wer da nicht sentimental wird, ist selbst schuld.»

Sabine Maier, 1959 in Seewalchen am Attersee geboren, ist seit 2009 die Wiener StadtSpionin. Ihr wunderschön-informativer Newsletter kann gratis unter www.diestadtspionin.at abonniert werden. Sie liebt Wien, obwohl sie zuvor in München und Berlin gelebt und gearbeitet hat.

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