«Ständig dieses ‹Hallo, bitte! Hallo, bitte! …›»Artistin

Keine Arbeit, keine Idylle: Nămăieşti, ein kleines Dorf in den rumänischen Karpaten (Foto: © Andrej Schwartz)

Maria und Tîrloi sind Pendler:innen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit Betteln in Hamburg. Der Dokumentarfilm «Europa Passage», den der Augustin in Kooperation mit dem Festival ethnocineca am 10. Mai in Wien zeigt, gibt Einblick in ihre Geschichte.

Pferde wiehern, Hunde bellen, der Hahn kräht. Es könnte idyllisch sein, in diesem kleinen Dorf am Land. Aber die Holzhäuschen sind dürftig und die Reisigbesen, die hier gebunden werden, bringen kein Geld mehr. Andere Lohnarbeit gibt es nicht, die Fabriken von früher sind längst weg. Nămăieşti heißt das Dorf in Rumänien, aus dem einige Rom:nja stammen, die mehrere Monate im Jahr in Hamburg verbringen. Hier können sie ein bisschen etwas verdienen, mit Betteln und Straßenzeitungsverkauf. Im Dorf bleiben die Kinder, Enkelkinder und andere Verwandte, die dieses Geld zum Überleben brauchen.
Fünf Jahre lang hat der ­rumänische Dokumentarfilmemacher Andrei Schwartz die Gruppe begleitet. Herausgekommen ist der Film Europa Passage, dessen Titel das gleichnamige Einkaufszentrum in der Hamburger Innenstadt zitiert, aber auch auf die dramatische Situa­tion von Notreisenden Bezug nimmt, die zwischen EU-Ländern pendeln, um ihr Leben zu bestreiten. Wo immer sie sind, leben sie in Armut; in den Großstädten haben sie kein Obdach, am Dorf kein Einkommen. Hauptsächlich müssen sie weg: Von zu Hause, weil es da keine Perspektive gibt. Vom Platz zum Betteln vor dem Supermarkt, weil schon jemand anderer hier sitzt. Aus einer verfallenen Baracke auf einer verlassenen Grünfläche, weil der Besitzer sie vertreibt. Aus den Winterquartieren der Notschlafstellen, weil sie ja eh eine Bleibe im Dorf haben (so das Argument) und sogar von ihrem kalten Schlafplatz unter der S-Bahnbrücke, weil die Polizei sie dort nicht haben will. Sie kennen die Wege durch Europa auf eine Weise, die der:die durchschnittliche Urlaubsreisende niemals sieht. Europa aber, so wird klar, blendet diese zeitgenössischen Geschichten des spezifischen Wissens und der Armut aus. «Der rumänischen Regierung ist das egal», sagt Andrei Schwartz im Gespräch mit dem Augustin. «Es gibt Geld von der EU, aber ich glaube, damit machen sie nur ein paar Vorzeigeprojekte. Ich habe noch nie erlebt, dass die rumänische Regierung sich ernsthaft engagiert hätte.»

Mit-sehen

Mariana Luca, genannt ­Maria, und Ion Luca, Ţîrloi gerufen, sind die «Hauptdarsteller:innen» des Films. Das Ehepaar ist seit langem verheiratet und verbringt inzwischen viel Zeit im Jahr in Hamburg. «Manchmal habe ich ­keine Lust mehr», sagt Maria. «Ständig dieses ‹­Hallo, bitte! Hallo, bitte! …›». Sie sitzt vor der ­Kirche, um nach der Messe um Geld zu bitten, nur ­wenige geben etwas. Sie sitzt vor Supermärkten und an Straßenrändern. Auch Ţîrloi arbeitete lange Zeit als Bettler, bevor er es mit dem Verkauf einer Straßenzeitung versuchte und dann sogar einen Job fand. Dass so viele Leute vorbeigehen und die um Geld bittenden Menschen nicht ­beachten, ist zermürbend. Das in Ansätzen spüren zu können, ist ein Verdienst des Films, der ernst ist, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. «Die Gefahr ­einer einzigen Geschichte» nennt die Schriftstellerin ­Chimamanda Ngozi Adichie es, wenn Menschen nicht als Individuen mit einer ­Lebensgeschichte, mit Gefühlen, Ängsten, Vorlieben, Wünschen und Träumen wahrgenommen werden, sondern nur als Vertreter:innen einer Gruppe mit einem stereotypen Merkmal gesehen werden – als «Bettlerin» etwa. Damit geht eine Kaskade an Vorstellungen einher, die meist alle falsch sind. Etwa dass es jemandem, der bettelt, nichts ausmachen würde, stundenlang in der Kälte am Boden zu sitzen.
Durch die Einstellungen der Kamera, die manchmal von gleicher Höhe die ­Perspektive vom Straßenrand aus filmt, ohne so zu tun, als wäre die Kamerafrau die bettelnde Person, gibt es für die Zuseher:innen eine Art limi­tierte Möglichkeit zur Identifikation: So weit wie nötig, aber nicht so weit, dass ­keine ­Distanz mehr besteht. Die braucht es, um den Protagonist:innen aufmerksam zuzuhören. Keine Off-Stimme, die Objektivität suggeriert, erzählt, sondern die Gefilmten selbst. Sie sprechen von Kopfweh, vom Geld, von ihren Gefühlen, Sehnsüchten, Sorgen und von den strukturellen Gründen für ihre Lebenssituationen. Verzweiflung und Trauer klingen durch, aber auch Selbstironie, Humor und Hoffnung.
Maria etwa vermisst das Dorf und ihre ­Enkelin Ioana, möchte aber auch ihren Mann nicht alleine in Hamburg lassen. «Er hat sich an das Leben hier gewöhnt, er möchte nicht mehr nach Hause», sagt sie. Ţîrloi findet als Einziger aus der Gruppe Arbeit. Und hat dann ständig Angst, diese zu verlieren. Die Verhältnisse sind äußerst prekär, er hat die Arbeit auch nur deswegen gefunden, weil er irgendwann eine Meldeadresse in der Stadt hatte. Eine Hilfsorganisation hat eine kleine Wohnung zur Verfügung gestellt, die Miete wird aus Ţîrlois ­Gehalt bezahlt.

Ein Film über Menschen

Ein Erfolg, aber einer, der einen Preis hat, wie Regisseur Schwartz es formuliert. Denn der Film erzählt auch die ­Geschichte einer Entfremdung: zwischen zwei Eheleuten, die nun unterschiedliche Wünsche und Zukunftsvorstellungen haben, und zwischen Verwandten, die bislang ein gemeinsames Leben teilten. Nun schlafen aber nicht mehr alle auf der Straße. Das kreiert emotional schwierige Situationen, die der Film einzufangen vermag. Unter anderem dafür gab es eine Nominierung für den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts und eine weitere für den Preis der Deutschen Filmkritik 2022.
«Das, was ich ­mache, ist kein Film über Bettler, es ist kein Film über Roma. Was ich mache, ist ein Film über Menschen, die unter prekären Bedingungen versuchen, sich einen Zipfel Normalität zu ergattern», erklärt ­Andrei Schwartz. Es ist eine Herangehensweise, die ihn bei allen seinen bisherigen Dokus begleitete, in denen er Menschen porträtierte, die mit Ausgrenzung und in Armut leben.
In Europa Passage blitzt das Filmen als ­Tätigkeit des Herstellens von Realität ­immer wieder durch. Wenn Maria am ­Telefon ­jemandem aus dem Dorf erzählt, dass sie ­gerade ­gefilmt wird etwa. Oder wenn Ţîrloi ­direkt zu Regisseur Andrei spricht, um ihm mitzuteilen, dass in der Firma, in der er arbeitet, nicht gedreht werden könne. Er möchte nicht extra Aufmerksamkeit erregen.
Bleibt eine Frage: Warum haben Maria, Ţîrloi und die anderen überhaupt beim Dreh mitgemacht? «Als ich zum ersten Mal im Dorf war, habe ich ihnen meinen alten Film Auf der ­Kippe gezeigt», erzählt der Regisseur. Für den gab es 1997 einen Preis beim Dokumentar­filmfestival in Amsterdam. Die Geschichte handelt von der Rom:nja-Siedlung Dallas in Rumänien. «Sie mochten den Film», sagt Andrei. «Zweitens: Es gibt einen Moment, wo die Leute merken, ­eigentlich interessieren sie jemanden als Menschen und nicht nur als Filmprotagonisten. Es ist immer ein Geben und Nehmen. Einmal, zweimal die Woche treffen wir uns noch heute.»

 

Ethnocineca

Was die internationale Dokumentarfilmszene zu bieten hat, flimmert seit 2007 beim Festival ­ethnocineca über die Wiener Leinwände. Heuer mit dem Schwerpunkt ­Liminalities, was man mit Schwellenzustand übersetzen kann. Es geht um «Erfahrungen des Wandels» in «bewegten Zeiten» und um das «Spannungsverhältnis zwischen Veränderung und Stillstand». Rund 50 aktuelle Filme werden bei der heurigen Ausgabe im Votiv Kino und im Kino de France ­gezeigt, dazu finden Preisverleihungen, Publikumsgespräche, Gastvorträge und Afterpartys statt.

 

Filmvorführung Europa Passage
10. Mai, 17 Uhr

Publikumsdiskussion im Anschluss,
18.45 bis 19.45 Uhr:
Lebensrealitäten von Bettler:innen und Straßenzeitungsverkäufer:innen
Am Podium: 2 Augustin-Verkäufer:innen und Annika Rauchberger, ehemalige Aktivistin der Wiener Bettellobby
Moderation: Ruth Weismann, Augustin-Redakteurin

Votiv Kino, 9., Währinger Straße 12
www.votivkino.at/film/europa-passage

Ethnocineca International Documentary Film Festival Vienna
4. bis 11. Mai
www.ethnocineca.at