Start einer neuen AUGUSTIN Rubrikvorstadt

Denk mal

Protestort.

Jetzt sind die Rosen im Volksgarten mit Jutesäcken bemützt, zum Schutz vor dem Winterfrost. Im September schlenderte ich hier noch an blühenden Rosenstöcken vorbei. Lebendige Denkmäler inmitten einer ruhigen Oase; Müttern und Vätern gewidmet, aber auch so unterschiedlichen Berühmtheiten wie Heesters und Peymann. Durch die Gitterstäbe sah ich das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz. Grau-in-Grau-Ästhetik, dachte ich. Doch dann begann ich, das Denkmal am Ballhausplatz anders wahrzunehmen. Es war mühsam, die drei hohen Stufen des monumentalen X’s heraufzukraxeln. Der Beton schimmerte bläulich, war warm und weich. Dort oben stand ich in meinem Sommerkleid im lauen Abendwind. Ein Fiaker fuhr vorbei. Polizeiautos parkten vor dem angrenzenden Kanzleramt und dem Sitz des Bundespräsidenten.
Schauen die Politiker_innen aus ihren Räumen auf das Denkmal hinab? Erst aus der Höhe erschließt sich das X und der Text darauf. Viele «all» umschließen das «alone». Die vielen können Hoffnung geben, Halt bieten oder zur Bedrohung werden. Der Einzelne, der abweicht, der den Herrschenden widerspricht, der war im Zweiten Weltkrieg allein, ausgeliefert. Ist dieses Denkmal heutigen Politiker_innen eine Mahnung, abweichenden Meinungen zuzuhören? In der anderen Richtung der berühmt-berüchtigte Balkon, von dem aus Hitler seine Rede hielt. Hier verschmelzen Geschichte und Gegenwart. Es könnte keinen brisanteren Ort für dieses Denkmal geben. Aber wer traut sich hier schon was, wenn die Polizei gegenüber aufgefahren ist? Die Omas gegen Rechts zum Beispiel, die ein paar Wochen nach meinem ersten Besuch immer wieder auf dem Denkmal sitzen. Statt Ross und Reiter haben sie Platz genommen und schauen freundlich, aber bestimmt auf die Schaltzentralen der Macht. Einen Monat später versammeln sich Impfgegner_innen im Protest gegen den Staat, der versucht, sie zu schützen. Die Demokratie braucht Orte wie diesen, auch wenn ihr Anblick mitunter schwer auszuhalten ist.

Tanja Schult, Kunsthistorikerin an der ­Stockholmer Universität,
zurzeit Gastforscherin in Wien

Foto: Michael Bigus