Gedicht von Hildegard Steinböck
Hildegard Steinböck
Sternenschau
In dieser klirrend kalten Winternacht
warte ich ungeduldig und frierend
auf die letzte Straßenbahn.
Zu dieser späten Stunde – beinahe Mitternacht –
steht nur noch einer da, der ausharrt.
Lange schon sind sie mir vertraut
im Bild dieser Stadt: Menschen,
am Rand der Gesellschaft lebend.
Obdachlos.
Ihre müden, unrasierten Gesichter,
Augen, gezeichnet vom Alkohol,
sind zu gewohnter Anblick,
um noch aufzufallen.
Langsam wird mir bewusst,
dass dieser Mann nicht wartet,
einfach nur dasteht, um irgendwo zu sein.
Mein Blick wandert die Schienen entlang,
erfasst den ungewöhnlich klaren Sternenhimmel.
Die Faszination daran
lässt mich das Warten in der Kälte
erträglich empfinden.
Als er auf mich zukommt, weiß ich,
er wird nicht betteln,
will nur Gemeinschaft fühlen
in seiner fast andächtigen Schau der Sterne.
Wie selbstverständlich
erklärt er mir Planetenkonstellationen,
Sternenbilder, von denen mir nur wenige bekannt sind.
Ich lausche mit großer Aufmerksamkeit.
Seine Erklärungen kann ich nicht nachvollziehen,
weil mir das Wissen fehlt.
Und doch spüre ich, dass er weiß.
In diesem Augenblick ist er mir Lehrer,
ohne zu belehren,
und unser Schauen und Staunen
schafft stilles Einverständnis.
Seine verwahrloste Kleidung,
sein unrasiertes Gesicht und wirres Haar,
ich sehe es nicht mehr.
Vergesse auf den Alkoholgeruch seines Atems.
Was zählt, ist seine Persönlichkeit,
sein Wissen hinter der Fassade des Gestrandetseins.
Seine Sternenkunde
schenkt mir Bereicherung.
Zufriedenheit und Wärme seiner Augen
vermitteln glaubhaft,
dass er nicht wirklich arm ist.
Reich ist seine Seele
im tiefen Erleben der Geheimnisse der Natur.
Geistiges Gut,
das ihm nicht genommen werden kann.
Beinahe enttäuscht
werde ich durch die ersehnte Straßenbahn
aus dieser Begegnung herausgerissen.
Dass ich sie in meinem Herzen bewahre,
ist mein Geschenk an ihn,
den «Sandler»,
auch wenn er darum nicht weiß.