«Stimmt schon» – stimmt nicht!tun & lassen

Trinkgeld ist kein gerechter Lohn

In manchen Branchen werden Teile der Entlohnung der Freiwilligkeit und dem guten Willen der Kund_innen überlassen. Clemens Staudinger über Sitten und Unsitten zum Thema Trinkgeld. Illustration: Margarethe Mayr.

Ein kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie betreten ein Schuhgeschäft und wollen Schuhe kaufen. Die Verkäuferin oder der Verkäufer beraten Sie ausführlich, und Sie entschließen sich zum Kauf der gewählten Schuhe. Der Preis wird genannt, Sie sagen o. k. und gehen zur Kassa, um zu bezahlen. Da tritt der oder die Geschäftsinhaber_in auf und erklärt Ihnen: «Leider – (und denkt sich: Sehr gut dass dies möglich ist, morgen kaufe ich mir einen Porsche) – bezahle ich meinen Angestellten so wenig, dass diese mit ihrem Gehalt kein Auslangen finden können. Es wäre freundlich, wenn Sie dem Verkäufer zusätzlich zum Rechnungsbetrag ein paar Münzen schenken könnten. Vielen Dank!» Sie wären verwundert ob der Unverschämtheit des Ansinnens und der Absurdität des Geschäftsmodells.

Was hier als überspitztes Gedankenexperiment dargestellt wurde, ist Realität und Alltag (der Porsche vielleicht nicht) in einigen Branchen in Österreich: Gastronomie, Tourismus, Friseur_in, Taxi, und andere. Tatsache ist, dass Kollektivverträge, nicht nur in den genannten Bereichen, so niedrig angesetzt werden, dass ein zusätzliches Einkommen in Form von freiwillig gegebenem Trinkgeld für die Betroffenen existenziell ist und dass diese Tatsache in den Personalabteilungen, wo die Löhne berechnet werden, bekannt ist und mitkalkuliert wird. Lohnanteile werden so Kund_innen überantwortet und die Lohnabhängigen sind diesem Spiel ausgeliefert.

Sinnhaftes Arbeitsrecht?

Es geht aber noch schlimmer: Eine weltweit und auch in Österreich tätige Fastfoodkette geht nun in einigen Filialen dazu über, einen Tischservice mit Bedienung anzubieten. Trinkgeld ist in dem Laden nicht üblich und verpönt. Will ein Gast sich dennoch für eine freundliche Bedienung bedanken und Trinkgeld geben, so ist es den Mitarbeiter_innen streng verboten, dieses anzunehmen. Das Geld kommt sichtbar für die Kund_innen in eine gläserne Box in Form eines kleinen Häuschens und wird der Kinderkrebshilfe gespendet. Was gibt es Schöneres und Menschlicheres, als kranken Kindern zu helfen? Muss eine menschliche und hilfsbereite Firma sein. Der PR-Coup scheint gelungen: Da gibt es ein Unternehmen, das Monat für Monat der Krebshilfe mit saftigen Geldbeträgen unter die Arme greift. Tatsache ist: Die Spenden zahlen zuerst die Kund_innen, wenn sie Trinkgeld den Mitarbeiter_innen geben, dann werden den Mitarbeiter_innen diese Summen wieder weggenommen, und das Unternehmen darf sich als großzügiger Spender feiern lassen. So wird «erfolgreiche» PR gemacht. Kostet dem Unternehmen keinen Cent, die Mitarbeiter_innen werden eingeladen, dem Ganzen «freiwillig» zuzustimmen, und das Unternehmen darf einen gratis Imagegewinn verbuchen. Rechtlich gesehen ist die Firma auf der sicheren Seite. Das Annehmen von Trinkgeld kann aufgrund der Bestimmungen in einem Dienstvertrag oder interner Regelungen im Betrieb verboten werden. Deshalb kann die Annahme von Trinkgeld, wenn sie derartigen Regelungen widerspricht, als Dienstpflichtverletzung gewertet werden (Compliance-Richtlinien des jeweiligen Unternehmens). Hier dient das Arbeitsrecht als Hilfe und Grundlage für die Operation Imagegewinn des Unternehmens.

Es gibt aber auch Fälle, bei denen das einer oder einem Mitarbeiter_in freiwillig gegebene Trinkgeld vom Unternehmen einfach einkassiert wird. Ganz ohne Krebshilfe oder anderer Öffentlichkeitsarbeit. Derzeit aktuell anhängig beim Arbeits- und Sozialgericht in Wien: ­Claudia P., Studentin, arbeitete im Sommer in der Gastrozone am Wiener Rathausplatz. Die Praxis dort: Das gegebene Trinkgeld kommt in eine Box und wird am Abend unter der Crew gerecht aufgeteilt. Eine Woche nach Geschäftsbeginn erklärt die Chefin, dass das Trinkgeld künftig von ihr verwahrt und am Ende der Tätigkeit aufgeteilt werde. Abgesehen davon, dass die Mitarbeiter_innen ab diesem Zeitpunkt keinerlei Kontrolle über das eingenommene Trinkgeld mehr hatten, kam es so wie von diesen erwartet: Am Ende der Saison wurde gar nichts verteilt, und die Chefin behielt das eingesammelte Trinkgeld. Vorerst. Jetzt hat Claudia P. das Unternehmen geklagt und verlangt ihren Anteil an dem Geld. Ihre Chancen werden von der AK-Wien, die die Rechtsvertretung übernommen hat, als sehr günstig eingeschätzt. Es bleibt aber die Frage, wie eine Mitarbeiterin, die ohnehin miserabel entlohnt wird und deshalb ein Trinkgeld in ihre Kalkulationen einbeziehen muss, dazu kommt, sich am Ende des Dienstverhältnis um ihren Anteil streiten zu müssen?

Mehr verdienen?

Die AK Wien hat beobachtet, dass sich in jüngerer Zeit immer öfter Mitarbeiter_innen beschweren, dass Chef_innen versuchen, Kellner_innen gegebenes Trinkgeld einzubehalten. Mit teilweise absurd klingender Argumentation: Keller_innen würden Geschirr zu Bruch gehen lassen, und dies müsse mittels des erhaltenen Trinkgeldes bezahlt werden. Rechtlich selbstredend ein Unsinn, aber versetzen wir uns in die Situation eines oder einer Mitarbeiter_in, die oder der auf den Job angewiesen ist und deshalb sich Derartiges «freiwillig» gefallen lassen muss.

In der neuen Welt der Share Economy ist Trinkgeld und der Zusammenhang mit schlechter Bezahlung ebenfalls ein Thema. Bei Uber ist es nun möglich, dem oder der Fahrer_in per App am Smartphone ein Trinkgeld zu geben. Völlig ungeniert erklärt Uber-Geschäftsführer Andreas Weinberger im Standard: «Mit der neuen Trinkgeldfunktion können diese Fahrer jetzt mehr verdienen …» Auch hier dasselbe Prinzip: Fahrer_innen werden vom gut verdienenden Unternehmen schlecht entlohnt, die Kund_innen dürfen die Gage aufbessern. Lohn wird so an die Fahrgäste ausgelagert.

Rechtlich gesehen ist «Trinkgeld grundsätzlich eine Schenkung von einem Dritten, außer das Trinkgeld wurde in bestimmter Höhe vom Arbeitgeber vertraglich garantiert, dann gilt es als Entgelt», erklärt der ÖGB auf der Homepage der österreichischen Gewerkschaftsjugend (www.oegj.at) und weist dort auf einen weiteren Umstand hin: «Trinkgelder, die in ortsüblicher Höhe, freiwillig, ohne Rechtsanspruch, anlässlich einer Arbeitsleistung (d. h. zusätzlich zu dem Betrag, der für diese Arbeitsleistung zu zahlen ist) dem/der Arbeitnehmer_in von dritter Seite gegeben werden, sind lohn- und einkommensteuerfrei. Keine Steuerbefreiung gilt, wenn aufgrund gesetzlicher oder kollektivvertraglicher Bestimmungen den Arbeitnehmer_innen die direkte Annahme von Trinkgeldern untersagt ist und dennoch Trinkgeld angenommen wird. Ebenso ist ein vom/von der Arbeitgeber/in vertraglich garantiertes Trinkgeld nicht steuerbefreit. Trinkgelder sind aber Entgelt im sozialversicherungsrechtlichen Sinn und unterliegen somit der Beitragspflicht. Für einige Branchen gibt es Trinkgeldpauschalierungen (Kosmetiker, Fußpfleger und Masseure, Friseure und für das ­Gast-, Schank- und Beherbergungsgewerbe).»

In der Gastronomie taucht immer wieder die Frage nach einer gerechten Verteilung des gegebenen Trinkgeldes zwischen Bedienungs-, Küchen- und sonstigem Personal auf. Hier sind Betriebsvereinbarungen für das gesamte Personal bindend. Derartige Vereinbarungen basieren auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.

Was tun? Generös sein (wer es sich leisten kann) und großzügig Trinkgeld geben und so das System, das geringen Lohn vom Unternehmen und Auslagerung von Lohnbestandteilen an die Kund_innen miteinkalkuliert, de facto unterstützen? Oder bei jeder Rechnungslegung im Restaurant dem oder der Chef_in sagen, er oder sie solle seine oder ihre Mitarbeiter_innen anständig bezahlen und so erledige sich das Thema Trinkgeld?

Entscheiden Sie sich für den Widerspruch, geben Sie dem Personal Trinkgeld und lassen Sie den Chef wissen, dass Sie miese Bezahlung und die Auslagerung von Lohnbestandteilen schlicht und einfach für schäbig erachten.