Strafpolitik statt Sozialpolitiktun & lassen

"Nulltoleranz" oder die Säuberung des Öffentlichen Raums

Nulltoleranz.jpgKriminalität und Gewalt ist ein Problem großer Städte; in allen Kulturen zu allen Zeiten. Das Ausmaß von Gewalt und Verbrechen hängt aber immer auch mit Reichtum und Armut zusammen. Wachsende Ungleichheit und Armut haben Einfluss auf Kriminalitätsfurcht und Unsicherheit in den Gesellschaften. So weisen Länder mit einer großen Kluft zwischen Arm und Reich in der Regel auch höhere Verbrechensraten auf. Die Wiener Hysterie um die imaginäre Bettlermafia zeigt, dass die Nulltoleranz-Ideologie erfolgreich die Route über den großen Teich gefunden hat.

Gemessen werden kann die Ungleichheit mit dem so genannten Gini-Faktor. Ein Gini-Faktor von null hieße Totalsozialismus jeder Bürger besitzt und verdient genauso viel wie alle anderen. Ein Gini-Faktor von eins hieße Totalfeudalismus: Einer Person gehört alles, alle anderen haben exakt nichts. Für die Verteilung der verfügbaren Einkommen der Haushalte liegt dieser in Österreich bei 0,24, in Deutschland bei 0,274, in den USA bei 0,408, in den meisten lateinamerikanischen Ländern bei 0,5 und in China bei 0,59. Der Gini Faktor lässt sich aber auch als Indikator für eine repressive, strafende Politik lesen; je höher der Faktor, desto unbarmherziger die Strafen bei Regelverstößen und desto voller die Gefängnisse.

Statt Armut zu bekämpfen, werden die Armen bekämpft, mit diesem repressiven Rezept reagieren die neokonservativen Denkfabriken in den USA auf die sozialen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Unter dem Schlagwort „Nulltoleranz“ wird die soziale Unordnung, die auf Arbeitslosigkeit, prekäre Löhne und Sozialabbau zurückgeht, mit Polizei und Justiz bekämpft. Die Opfer des deregulierten Marktes werden kriminalisiert und bestraft, der Polizeistaat ersetzt den Wohlfahrtsstaat. Dieselben Köpfe, die vor Jahren unter dem Schlachtruf „Weniger Staat“ den Rückzug des Staates aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik forderten und durchsetzten, rufen nun nach mehr Staat, wenn es um die Eindämmung der Folgen geht.

Nulltoleranz ist ein Schlagwort, ein Mythos für eine Politik, die in New York umgesetzt wurde und darin besteht, sehr hart und sehr systematisch die Kleindelinquenz von der Straße zu entfernen: die Obdachlosen, die Prostituierten, die Bettler, die Straßenhändler und die Ausgeschlossenen, die als physische oder moralische Bedrohung empfunden werden. Diese „Politik der Lebensqualität“, wie sie vom ehemaligen New Yorker Bürgermeister Giuliani und seinem Polizeichef Bratton medial verkauft wurde, ist nichts anderes als die Klassensäuberung der Straßen, damit der öffentliche Raum für die Mittel- und Oberklassen angenehmer und auch konsumierbarer wird.

Aufbewahrungsorte Gefängnis und Flüchtlingslager

Nulltoleranz ist selektive Intoleranz gegenüber den Armen auf der Straße und gegen gewisse Verhaltensweisen der Armen, die als unerwünscht oder gefährlich gelten, und sie äußert sich in der sozialen Säuberung und Kontrolle der Armen. Es ist keinesfalls eine Intoleranz gegenüber aller Art von Kriminalität, niemand spricht von Nulltoleranz in Zusammenhang mit Steuerhinterziehung oder politischer Korruption, sondern immer nur in Zusammenhang mit der Straßenkriminalität, dabei ist der gesellschaftliche und soziale Schaden, der durch Wirtschaftskriminalität entsteht, ungleich höher als jener durch kleinkriminelle Aktivitäten. So beträgt der Anteil von Wirtschaftsverbrechen an der Gesamtkriminalität etwa 2 Prozent, diese 2 Prozent sind aber für 50 Prozent der Gesamtschadenssumme von Kriminalität verantwortlich.

Der polnische Philosoph Zygmunt Baumann schreibt von der Produktion von Müll und Abfall durch die moderne Gesellschaft und meint die Staatenlosen, die Flüchtlinge, die Arbeitslosen. Diese gesellschaftlichen Minderheiten werden ausgegrenzt, sind aber nicht mehr integrierbar. Der Ort zur Aufbewahrung der Unnützen ist das Gefängnis oder das Flüchtlingslager. Diese Säuberung von Müll meinte auch der französische Präsident Sarkozy, als der davon sprach, die Vorstädte vom Gesindel mit dem Kärcher (Hochdruckreiniger) zu säubern.

Der einzige verbliebene Nutzen der Überflüssigen ist, dass Ängste geschürt und Herrschaft Macht demonstrieren kann, eben mit Nulltoleranz und Repression. So ist der soziale und wirtschaftliche Rückzug des Staates einerseits und die Zunahme und Glorifizierung der Sicherheits- und Repressionsaufgaben andererseits, nicht widersprüchlich, sondern komplementär: Es handelt sich um eine Gesamtpolitik, die mehr und mehr mit dem Polizei- und Strafapparat auf die Unordnung antwortet, die ihrerseits auf die wirtschaftliche Deregulierung zurückgeht, auf die Zunahme der prekären Löhne, der Arbeitslosigkeit, des Elends, der Ungleichheiten, auf den Abbau des sozialen Schutzes. Diese Politik bestraft die Armut, die sich mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell global ausgeweitet hat.

Wozu die Gesellschaft den Kriminellen braucht

Mit der objektiv steigenden sozialen Unsicherheit, die heute auch Teile der Mittelklasse trifft und noch weiter hinaufsteigt, nimmt die Angst vor dem sozialen Absturz zu, die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, den Mittelklassestatus nicht halten zu können und ihn nicht an die Kinder weitergeben zu können. Man schickt die Kinder an die Universität und ist nicht sicher, ob sie mit einem Abschluss auch eine sichere und angebracht bezahlte Arbeit finden werden. Diese generelle soziale Angst spitzen Politiker und Medien auf den Kriminellen zu, der die Angst vor dem sozialen Absturz symbolisiert, und deshalb kommt es zu diesem sehr heftigen Diskurs und zu dieser Forderung, den Kriminellen, den Armen, den Immigranten auf Distanz zu halten, also all die Menschen, die in den Ritzen der Gesellschaft leben und für die Mittel- und Oberklasse den sozialen Absturz symbolisieren

Keine andere Stadt in den USA hat diese Politik seit 1993 so rigoros umgesetzt wie New York, und mit ihren vermeintlichen Erfolgen wurde Nulltoleranzpolitik zum Vorbild auch für europäische Städte und Sicherheitspolitiker. Wie bei vielen Erfolgsgeschichten ist die Senkung der Kriminalität in den amerikanischen Städten ein Marketinggag.

Loic Wacquant, der kanadische Kriminologe, weist nach, dass die Kriminalität dort bereits drei Jahre früher zu sinken begann wie überall in den USA , unabhängig von der Stadtgröße oder von der eingeschlagenen Politik. Grundsätzlich spielen dafür vier Faktoren eine Rolle: Der erste ist die bessere Wirtschaftslage und der damit verbundene deutliche Rückgang der Arbeitslosigkeit unter der jungen Bevölkerung in den Armenvierteln. Sobald es bezahlte Arbeit gibt, geben die Jungen sofort die informelle und kriminelle Arbeit auf den Straßen auf. Der zweite Faktor ist der demographische Rückgang der jungen Generationen. Haupttäter der Straßenkriminalität sind die 15- bis 25-Jährigen; wenn dieses Alterssegment abnimmt, nimmt auch die Straßenkriminalität automatisch ab. Drittens hat sich der Drogenmarkt stabilisiert, denn die milliardenteure repressive Drogenpolitik in den USA ist ein totaler Fehlschlag, gesunken ist nicht der Konsum, sondern nur das Preisniveau.

Der Drogenmarkt hat sich stabilisiert. In den 80er Jahren, als unter anderem Crack eingeführt wurde, entstand ein neuer Markt. Das war ein hartes Konkurrenzgeschäft, in dem sich kleine Banden heftig bekämpften, und in der illegalen Wirtschaft wird der Markt brutal und mit Gewalt geregelt. Anfang der 90er Jahre hatten die wichtigsten Gangs die Drogenverteilung unter sich aufgeteilt, man beobachtete eine Art Oligopol, das sich vom puren und perfekten neoliberalen Modell entfernt. Mit dieser Aufteilung erübrigt sich die Waffengewalt, um die Kontrolle auszuüben. Viertens haben sich Teile der jüngsten Generation in den Schwarzen- und Latino-Vierteln aus Erfahrung von der illegalen und kriminellen Straßenwirtschaft zurückgezogen. Sie erlebten die Gewalt der 80er Jahre hautnah ältere Brüder, Cousins, Freunde wurden umgebracht, verletzt, invalid, ins Gefängnis gesteckt und zogen ihre Schlüsse daraus.

Nulltoleranz und die Wiener Bettlerdebatte

Trotzdem werden beharrlich die Erfolge in der Kriminalitätsbekämpfung gerühmt und als Vorbild für europäische Städte gepriesen. Mitverantwortlich dafür sind die neokonservativen Thinktanks, wie das Manhattan Institut. Diese Propagandamaschinen produzieren ein Schlagwort wie die Nulltoleranz, geben Berichte ab, bombardieren die Medien mit Kommuniqués, organisieren Pressekonferenzen mit Pseudointellektuellen, die für die universitäre oder akademische Legitimation sorgen sollen. Dieses systematische Vorgehen hat reale Folgen: Das Schlagwort gelangt in die Alltagssprache, die Politiker fühlen sich zu dieser Politik gezwungen, wer für fundiertere Ursachenbekämpfung der Unsicherheit plädiert, wird als idealistischer Gutmensch denunziert.

In den USA wurde die Sozialpolitik durch die Strafpolitik ersetzt Gefängnisse statt Sozialprogramme. In den 90er Jahren hat die Gefängnisbelegung in den USA jährlich um acht Prozent zugenommen, derzeit sitzen über zwei Millionen Menschen hinter Gittern, dreimal mehr als vor 15 Jahren; global die höchste Zahl an Gefängnispopulation. Gleichzeitig wurden Sozialprogramme massiv zusammengestrichen.

Europa ist zwar (noch) nicht mit den USA vergleichbar, noch funktionieren soziale Netze und der Wohlfahrtsstaat ist nicht durch den strafenden Staat ersetzt worden, doch der Ruf nach härteren Strafen wird populärer. Die Säuberung der Innenstädte vom störenden Abfall siehe die aktuelle Wiener Bettlerdebatte oder die Erregung über die Punks auf der Mariahilfer Straße steht auch hier ganz oben auf der Agenda populistischer Politik.