Sturm im Bierglasvorstadt

Im Herbst, wenn Gerste und Hopfen längst eingebracht sind, verhandeln die Bierbrauer_innen ihre Löhne. Vom Maischegeruch in der Vorstadt, steigenden Rohstoffpreisen und sozialpartnerschaftlichen Bauernregeln.

TEXT: LISA BOLYOS
FOTOS: MICHAEL BIGUS

Jedes Jahr ist es dasselbe: Alle reden von den Metaller_innen. Säbelrasseln, Brodeln im Kessel – die metallurgischen Metaphern erleichtern das journalistische Handwerk, wenn im Herbst die Lohnrunden der Terminators unter den Verhandlungsprofis losgehen. Doch während sich in der Wiedner Hauptstraße, im Hauptquartier der Wirtschaftskammer, die Metalltechnische Indus­trie an den Lohnforderungen ihrer rund 190.000 Arbeiter_innen und Angestellten die Plomben ausbeißt, wird ein bisschen weiter stadteinwärts, in der Zaunergasse hinterm Schwarzenbergplatz, vor dem Haus des Fachverbandes der Nahrungs- und Genussmittelindustrie in aller Ruhe Bier gezapft. Beziehungsweise wird es nicht gezapft, sondern im Ein- und Mehrweggebinde ausgegeben, denn das hat seit Corona Konjunktur. Die Abnahme von Fassgebinden sank durch das Zusperren der Gasthäuser rapide, doch der Verkauf von Flaschen- und Dosenbier an Privathaushalte sicherte den Absatz der Branche. «Die Gastronomie ist zu, aber zuhause wird getrunken», frohlocken die «Hauptamtlichen» der Produktions­gewerkschaft (PRO-GE) und der Gewerkschaft für Privatangestellte (GPA), die die rund 4.500 Arbeitnehmer_innen der österreichischen Brauereien vertreten. Und darum, so der Tenor, mögen die Brauereiindustriellen doch bitte mit dem strategischen Jammern über ausbleibende Profite aufhören. In einem kleinen Bierzelt, das vom Wiener Herbstwind fast davongeblasen wird – mehrere Gewerkschafter_innen hängen sich an das Gestänge, um es festzuhalten – wird uns, schließlich sind wir mit dem Fahrrad und zum Arbeiten hier, 0,0%-Heineken in der Dose angeboten. Drinnen, in der Homebase der Arbeitgeber_innenseite, wird derweil auch um Prozente gefeilscht. Der Kollektivvertrag der Brauer_innen wird verhandelt.

Kommunales und Garagenbier.

«Das ist unsere dritte Verhandlung, und wir haben gesagt, da stellen wird die Zelte auf und zeigen, dass wir stark sind, damit die Arbeitgeber ein bisschen Angst vor uns haben.» Thomas Graf, das Schwechater-Emblem auf der Herbstjacke, grinst freundlich. Ob es Zufall ist, dass ich in dem vom Winde beinahe verwehten Bierzelt fast nur Männer treffe, möchte ich wissen. Zwar sitze für Stiegl eine Frau im Verhandlungsteam und es gebe in den Großbrauereien vereinzelt Braumeisterinnen und Elektrikerinnen, aber insgesamt sei die Branche nach wie vor relativ fest in Männerhand. «Nur unter den Angestellten sind viele Frauen.» Thomas Graf ist Betriebsrat bei Schwechater, der Brauerei mit dem schlechten Reim, mit dem jedes Wiener Kind aufgewachsen ist. Aufgewachsen sind viele Wiener_innen auch mit dem sonntäglichen Ausflug zum Flohmarkt am Gelände der Brauerei, der – Mariahilf, verzeih! – räudiger, romantischer und sehr viel besser sortiert war als der Naschmarkt; außerdem gab es nach erledigtem Großeinkauf verlässlich Langos zum Brunch. Seit die alten Gebäudeteile in den 2010er-Jahren abgerissen wurden und dort Wohnbauten stehen, ist der Flohmarkt Geschichte. Geschichte ist auch die kommunale Bierproduktion der Stadt Wien: Die besaß im Schwechater Ortsteil Rannersdorf in Kooperation mit einer Genossenschaft aus Wiener Wirt_innen bis 1959 eine eigene Brauerei, in der das Wiener Stadtbräu (ein Märzen) und das Stefflbräu (ein Doppelmalzbier) gebraut wurden.
Thomas Graf ist heuer nicht im – coronabedingt minimierten – Verhandlungsteam dabei. Er kam 1983 als Lehrling vom vierzig Kilometer entfernten Hainburg in die niederösterreichische Großbrauerei (ob eine Brauerei groß oder klein ist, ermisst sich an den dort produzierten Hektolitern, und an den Hektolitern wiederum ermisst sich auch die Höhe des Lohns) und erinnert sich daran, wie gut die Stimmung am Arbeitsplatz war: «Da bist du gern reingegangen, es war ein riesengroßer Betrieb und immer eine Gaudi.» Heute sei die Belegschaft stark reduziert, weniger Leute machen in einem technologisch besser ausgestatteten Betrieb dieselbe Arbeit – Zeit zum Zusammensitzen bleibe kaum.
Das Schwechater Brauhaus wurde im Jahr 1632 gegründet und hat seither eine Menge an Besitzerwechseln erlebt: Prominent war die Ära der Drehers (das Dreher Sör wird bis heute in Budapest gebraut), die Ende des 18. Jahrhunderts übernahmen und Anfang des 20. Jahrhunderts mit mehreren anderen lokalen Brauereien zur Vereinigten Brauereien AG fusionierten. In den 1930er-Jahren kauften die Mautner Markhofs die Vereinigten Brauereien, 1978 übernahm die Brau Union, und die wiederum wurde 2003 von Heineken, dem zweitgrößten Bierkonzern der Welt, gekauft. An den Arbeitsbedingungen habe das nichts verändert, betont der steirische PRO-GE-Gewerkschaftssekretär Hermann Edler. Dank einem hohen Organisierungsgrad – je nach Betrieb seien achtzig bis hundert Prozent der Brauereiarbeiter_innen Gewerkschaftsmitglieder, unter den Angestellten sind es rund halb so viele – habe man eine solide Basis für die KV-Verhandlungen. Der Kollektivvertrag gilt in Österreich für die gesamte Branche, also für jeden Betrieb von der Garagen- bis zur Großbrauerei, der in der Wirtschaftskammer das
Gewerbe Brauerei anmeldet.

Power to the Brauer!

3,2 Prozent Nettolohnerhöhung. Das ist die Forderung, mit der die Arbeitnehmer_innenseite sich an den Verhandlungstisch setzt. Von den Arbeitgeber_innen gebe es «erst einmal null Angebot», sagt Toni Hiden. Hiden leitet die KV-Verhandlungen für die Produktionsgewerkschaft. Von Berufs wegen Maschinenbauer, hat Hiden als hauptamtlicher Gewerkschafter von der Metall- in die Genussmittelbranche gewechselt. Letztes Jahr haben sich die beiden Sozialpartner aufgrund der wirtschaftlichen Ausfälle durch die Pandemie auf einen Abschluss in Höhe der Inflationsrate geeinigt. Man kann das als zweifach kulant interpretieren: Nicht nur «dankten» die Arbeitnehmer_innen damit den Arbeitgeber_innen dafür, dass sie sie ohne Arbeitsplatzverluste durch die Krise gebracht hatten; sie verzichteten auch darauf, das Jahr 2019, das hohe Gewinne gebracht hatte, in die Verhandlungen 2020 einfließen zu lassen.
«Corona ist nicht vorbei, aber wir müssen in einer neuen Normalität ankommen», sagt Hiden. In dieser neuen Nor­malität gebe es massive Preis­erhöhungen bei den Rohstoffen, die die Arbeitnehmer_innen, die mieten und heizen und kochen und tanken, genauso treffen. «Darum wollen wir heuer eine normale Lohnrunde, und die muss einen Reallohnzuwachs bringen.»
«Aus Sicht der Unternehmer_innen ist das Wirtschaftswachstum ein Pflänzchen, das wir gemeinsam schützen müssen», sagt Barbara Manes mit ironischem Unterton. «Ich bin seit siebzehn Jahren hier tätig, und das Pflänzchen wird einfach nicht größer. Es werden zwar Dividenden ausgeschüttet, aber die Arbeitnehmer_innen, die den Profit erwirtschaften, sollen nichts davon bekommen? Das kann’s nicht sein.» Manes ist aus Oberösterreich angereist, wo sie in der PRO-GE unter anderem die Brauereien betreut (eine andere Branche entlang der Bier-Produktionskette, die ebenfalls von der PRO-GE vertreten wird, sind übrigens die Saison­arbeiter_innen im Hopfenbau). Manes ist beratend im Lohnkomitee tätig. «Eine Lohnverhandlung ist optimal abgeschlossen, wenn beide Seiten unzufrieden sind», wiederholt sie die sozialpartnerschaftliche Bauernregel, die ich von den meisten Gesprächspartner_innen zu hören bekomme. Ein zutiefst österreichisches Bild. Dennoch blitzt Kampfgeist auf, wenn es um ein mögliches Scheitern der Verhandlungen geht: «Da fällt uns schon was ein, das Repertoire ist groß und kann bis zu Streik gehen.» Einen waschechten Brauerei-Streik hat Manes, die von der PEZ-Zuckerlfabrik zur Gewerkschaft wechselte, noch nicht erlebt, «Streikdrohungen aber schon»; vor drei Jahren habe es sich als nötig erwiesen, den KV-Verhandlungen damit ein bisschen Antriebskraft zu geben. Erfolgreich, wie Manes sich erinnert.
Streiks sind im sozialpartnerschaftlichen Verhandlungsland Österreich Mangelware. Ein Text auf der Website des Gewerkschaftsbundes verweist auf einen Wiener Brauereiarbeiterstreik vor 150 Jahren. Damals hätten 4.000 Arbeiter_innen aus 22 Wiener Brauereien für den Zehn- statt dem Sechzehnstundentag, eine Lohnerhöhung und das Ende körperlicher Gewalt durch die Chefitäten gestreikt. Drei Wochen lang hätten sie die lokale Bierproduktion stillgelegt und so ihre Ziele erreicht. Auf einen anderen Brauereistreik vergisst der Artikel: Im Oktober 2007 wurde in der Passauer Innstadt-Brauerei mit Unterstützung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) die Arbeit niedergelegt. Lohnkürzungen und eine Aufteilung der Belegschaft durch die Gründung von Tochterfirmen standen am Programm der Inhaber. Mehrheitsaktionär war zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren die Ottakringer GmbH aus Wien, deren herber Maischegeruch zum Wiener Vorstadtflair gehört. Und aus der Wiener Vorstadt fuhren dann laut NGG auch gelbe Bierkutschen in Passau ein – transnationale Streikbrecher, noch dazu an einem Feiertag, dem Tag der Deutschen Einheit. Die Gewerkschaft ging auf die Barrikaden. 2014 wurde die renitente und wenig gewinnbringende Innstadt-Produktion eingestellt, 2016 mit den Abrissarbeiten der Brauerei begonnen, ein Wohnbauprojekt direkt am Inn würde lukrativer sein; die alte Flaschenabfüllanlage ist heute ein Hotel.

Alkohol als Kulturgut.

Etwas mehr als 100 Liter Bier trinkt der oder die rechtlich dazu befugte, also mindestens 16-jährige, Österreicher_in laut Handbuch Alkohol im Jahr – durchschnittlich, die einen also weniger oder nichts, die anderen umso mehr. «Gerade im anrollenden Weihnachtsgeschäft wäre es schade, wenn die Bierproduktion ins Stocken geraten würde», schreiben PRO-GE und GPA in ihre Presseaussendung anlässlich der anrollenden KV-Verhandlungen. Nun wird in Österreich Alkoholkonsum, auch jener in zu hohem Ausmaß, gern als Kulturgut verteidigt. Das Gesundheitsministerium geht davon aus, dass fünf Prozent der Über-Fünfzehn-Jährigen chronisch alkoholabhängig sind, weitere neun Prozent gesundheitsgefährdend viel konsumieren, und auch die Zahlen alkoholrelevanter Erkrankungen und alkoholindizierter Todesfälle sind durchaus beeindruckend. Hat die fachlich versierte Gewerkschaft da keinen gesundheitspolitischen Auftrag, sich mit Alkoholismus zu beschäftigen? «Gute Frage», sagt Gewerkschaftssekretär Edler, um dann – Beruf ist Beruf – den «normalen, gesunden Bierkonsum» zu verteidigen. Thomas Graf hingegen sieht durchaus ein Umdenken in der Branche. Nicht zuletzt strengere Gesetze – etwa den Straßenverkehr betreffend – würden dazu beitragen, dass die Brauereien sich mit so etwas wie gesellschaftlicher Transformation im Kleinen beschäftigen müssen. «Der Anteil der Getränke mit 0,0 Prozent ist im Wachsen.» Rund 300.000 Hektoliter alkoholfreies Bier werden in Österreich jährlich produziert – die Vergleichszahl des alkoholhaltigen Biers liegt bei rund 9,8 Millionen Hektoliter.
Am Tag nach dem kleinen Zeltfest in der Zaunergasse sind die Medien wieder mit der Metallbranche beschäftigt: Die Verhandlungen wurden abgebrochen, jetzt stehen Betriebsversammlungen an, um in die Phase der Streikandrohungen zu gehen. Nicht so bei den Brauer_innen. «Die Abstände zwischen den Vertragspartnern haben gezeigt, dass eine Einigung noch nicht möglich ist», gibt sich Toni Hiden am Telefon sozialpartnerschaftlich-zuversichtlich. Am 24. November wird weiterverhandelt.

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