Internetradio im Hinterhof. Dem Wiener Community-Sender RES.radio
geht es nicht um große Reichweiten, sondern um die Freiheit, ein eigenes Programm zu machen: ohne Kompromisse und abseits kultureller Konventionen.
Wer sich dieser Tage auf die Suche nach neuen Radiosendern macht, braucht kaum noch Apparate. Um Webradios aus aller Welt zu empfangen, benötigt man nicht viel mehr als einen Computer und eine intakte Internetverbindung; im Browser gibt man dann die Internetadresse des Streams der Wahl ein. Frequenzen müssen nicht erst gefunden und eingestellt werden, von Anfang an rauscht nichts im Äther. Auch auf Senderseite sind die Voraussetzungen verhältnismäßig gering. Betreiber:innen von Internetradios warten nicht auf Frequenzzuteilungen, für den laufenden Betrieb braucht es anstelle von Signalprozessoren und Sendeanlagen nur ein paar leistungsstarke Streamingserver – und einen Audioplayer, der die hörbaren Dateien über das Word Wide Web verbreitet.
Webradio in der Webgasse
In Wien gibt es derzeit um die zweihundert Webradios, bei den meisten handelt es sich jedoch um digitale Zusatzangebote analoger Stationen. Neben Vlan.Radio und Radio Rudina zählt RES.radio zu den ersten ausschließlich webbasierten Gründungen, seit gut vier Jahren geht es regelmäßig on air. Unter der Internetadresse www.res.radio kann man den Sender unterbrechungsfrei empfangen, die physische Homebase liegt in einem Hinterhof in der Wiener Webgasse.
Den Eingang zieren zwei antike Statuen mit abgeschlagenen Nasen, Mitbegründer Christopher Paul lässt sie gerne hinter sich. Er öffnet die Tür zu einem Raum, in dem es keine Gottheiten gibt. Radiomachen ohne Community wäre für Paul ein Ding der Unmöglichkeit, er versteht RES als hierarchiefreien Zusammenschluss von frei flottierenden Produzent:innen. Die Aufrechterhaltung der Infrastruktur wird über Vereinsbeiträge finanziert, als gleichberechtigte Partner:innen innerhalb derselben Organisierung haben alle Mitglieder dasselbe Stimmrecht. Monatlich fällt für die Lizenz auch ein Beitrag für die Austro Mechana, die Vergütungsgesellschaft für musikalische Urheberrechte, an. Er richtet sich nach der Reichweite, die an der Anzahl der Zuhörenden bemessen wird. Für ein nichtkommerzielles Radio wie RES ist der explizite Nischencharakter auch dahingehend vorteilhaft.
RES.radio bietet ein eklektisches Wochenprogramm, von klassischen DJ Mixes bis hin zu Diskursformaten. Von Deep House bis Afrobeat, Dub, Hip-Hop und Punk – bei RES hat jede Musiksparte ihren Platz. «Jede:r, der will, kann sich beteiligen», sagt Christopher Paul, «bezüglich der Formate und Sendungsinhalte gibt es keine festen Vorgaben.» Manche Sendungen feierten bereits ihre ersten Jubiläen, anderen Shows fehlte es für kontinuierliche Fortsetzungen an nötigen Ressourcen. Nicht anders als bei vielen analogen, nicht-kommerziellen Community-Radios arbeiten auch hier alle Radiomacher:innen ehrenamtlich. Sie sind zugleich Redakteur:innen, Techniker:innen und Sendungsverantwortliche an Bord ihres Raumschiffs. Vor Ort erinnert nichts an die Verstaubtheit männerdominierter Lehrredaktionen, hier wird niemand hart zensiert. «Vieles entsteht überhaupt erst im Tun», meint Christopher Paul. Spontaneität und Improvisationsfreude lieferten oft besonders authentische Tapes. Darüber hinaus verstehe RES sich auch als Verstärker:in der lokalen Club- und Veranstaltungsszene: Das inhaltlich diverse Programm macht über die einzelnen Musikszenen hinweg von sich hören.
Musikalische Mikrokosmen
Als DJ heißt Christopher Paul EXIT.KURT, unter diesem Namen legt er seit Mitte der Nullerjahre seine Lieblingsplatten auf. Im Jazzkeller von Krems gab er sein Debüt, gemeinsam mit zwei Freunden gründete er sein erstes DJ-Kollektiv. Musikalisch hat sich EXIT.KURT vom Punk der Anfangsjahre wegentwickelt, heute interessieren ihn vor allem außereuropäische Musikstile im Elektronikbereich. Mit Produzent:innen vom afrikanischen Kontinent geht er gerne Kooperationen ein, das Internet überbrückt die räumlichen Distanzen. Ein DJ aus dem südafrikanischen Durban zählt mittlerweile zu den fixen Show-Hosts bei RES, seine Mixtapes schickt er regelmäßig. An den Turntables aktiv sind zeitweilig auch drei unterschiedliche FLINTA-Kollektive, eines davon mailt seine Sendungen aus Berlin.
Das Organisationsteam von RES bindet nicht nur non-normative Genders gezielt ins Programm ein, es fördert auch gesellschaftspolitisch engagierte People of Color, die an den DJ-Pulten kommerzieller Clubs unterrepräsentiert sind. Mit der durch die Kulturabteilung der Stadt Wien unterstützten Reihe CURATED lädt RES an jedem Freitagabend zudem zu mehrstündigen Reisen durch musikalische Mikrokosmen ein, gibt Zeit, Raum und Sendefläche – zum Experimentieren mit Klangkulissen abseits des musikalischen Mainstreams. Zuletzt zu hören war dort der KLUB.MØNTAGE, 2020 vom Syndikat Sandkasten als transdisziplinäres Forschungsprojekt mit Fokus auf Neue Medien, Improvisation und Elektroakustik gegründet; nach der Live-Session ist der Mix – so wie fast alle RES-Sendungen – über SoundCloud abrufbar.
No drinks, vinyl only
Seit seiner Gründung hat RES.radio eine bewegte Geschichte hinter sich. Bevor aus der Villa Schapira teure Wohnungen wurden – Christoph Mackinger hat im November 2020 für den Augustin darüber berichtet –, hatte RES dort sein erstes Studio. Bald folgte eine weitere Wanderung: Am Areal des ehemaligen Sophienspitals konnte RES sich temporär einmieten, wurde nach einem halben Jahr aber wieder obdachlos. «Die Raumsuche war schwierig», sagt Christopher Paul, Makler:innen hätten lautlose Akteur:innen dem freien Radio immer wieder vorgezogen. Der Hinweis auf den ehemaligen Lagerraum im Hinterhof der Webgasse 3 kam von einer Unterstützerin des Radios im selben Haus. Den Eingangsbereich ziert eine rote Couch aus Plüsch, daneben eine kleine Kochnische samt Klo; die Show hingegen beginnt im Raum dahinter: Die Wände sind mit Schaumstoff-Pyramiden ausgekleidet, am DJ-Pult steht «No drinks, vinyl only».
«Kommt rein, hier entstehen Sendungen.» Christopher Paul schiebt die Vorhänge beiseite. Die Matte mit dem an alle Aufleger:innen gerichteten Motto liegt auf einem Teller, der Geschichte machen sollte. Erste Vorläufer des legendären Modells waren um 1980 erhältlich, bis heute hält die Hip-Hop-Legende Grandmaster Flash den Technics SL-1200MK2 für den besten Plattenspieler aller Zeiten. Sein Nachfolgemodell mit der Nummer SL-1210MKL lockt bei RES zum Live-Erlebnis. Die Taste für START und STOP ist unübersehbar groß und bei spontanem Tun nicht zu verfehlen, auch der Pitch-Regler zur Lautstärkesteuerung ist daumenbreit.
Seba Kayan hat eben erst auf der roten Couch von RES Platz genommen: «In der DJ-Szene gibt es rund zwanzig Prozent Frauen, aber nur 0,6 Prozent People of Color – und ich bin eine davon», sagt sie nicht ohne Stolz. Ausgabe 5 von Sebas Sendung Oriental Techno beschäftigt sich mit den Mikrotonalitäten eines Musikgenres, das die Wiener DJ mit kurdischem Hintergrund von seiner okzidentalen Ausrichtung befreien will. Konventionelle Software zur Produktion von Techno – so etwa das Programm «Ableton» – erschweren dies; sie verunmöglichen es, von den vorgegebenen Schemata abzuweichen und das Genre für andere Einflüsse zu öffnen. Obgleich Maqams ganze Erdteile musikalisch miteinander verbinden, sind diese vom Balkan bis nach Nordafrika zu vernehmenden Tonskalen im Standard-Paket für «Bedroom Producer» nicht vorhanden. Deshalb hat Seba einen Gast aus London eingeladen, der zugleich aus Berlin und dem Irak kommt: «Welcome to the show, Khyan!» Mit «Apotome» und dem Schwesternprogramm «Leimma» hat Khyam Allami sich seine eigenen Werkzeuge geschaffen, im Browser verweben sie scheinbar diametrale Klänge miteinander. Im Gespräch mit ihm ist DJ Seba Kayan ganz zuhause – im Hinterhof eines Webradios, das in musikalischer Hinsicht keine Grenzen kennt.
www.res.radio, www.soundcloud.com/resradio
Seba Kayan: www.soundcloud.com/user-62264219
Khyam Allami: www.khyamallami.com