«Supermarkt» der Sündenböcketun & lassen

Die gespaltene Stadt und ihre Sozialmärkte

Soziologiestudentinnen arbeiteten in zwei Wiener Sozialmärkten. In der Ausgabe 317 fassten wir ihre kritische Sicht auf das Sortiment dieser Einrichtungen zusammen. Problematisiert wurde unter anderem, dass Waren, die dem Sozialmarkt geschenkt wurden, also ihren Wartencharakter verloren, an Sozialmarkt-Kund_innen verkauft werden, also wieder zu Waren werden. Im folgenden Beitrag geht es um die Beziehung zum (Stadt-)Raum und um Interaktionen dreier beteiligten Gruppen: Wohlstands-Anrainer_innen, hauptsächlich migrantische Kund_innen und die Belegschaft der Sozialmärkte.

Wir Menschen nehmen meistens Probleme erst dann wahr, wenn wir direkt davon betroffen sind. Vorher bleibt das Problem «unsichtbar». Genauso verhält es sich mit den Sozialmärkten. Diese werden von solchen sozialen Gruppen aufgesucht, die sich mit prekären Lebensverhältnissen, durch Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder Alter bedingt, konfrontiert sehen. Die wirtschaftliche Entwicklung zeigt aber, dass die Prekarisierung bis zur gesellschaftlichen Mitte hinaufragt. Sozialmärkte würden dann auch der Mittelschicht zu Hilfe kommen; ihre Anzahl in der Stadt würde weiterhin steigen. Sie wären dann sichtbare Elemente einer zunehmend polarisierten Gesellschaft.

 

Die Gruppe der Sozialmarktkundschaft ist heterogen, vor allem was das Alter betrifft. Statistisch wird er mehr von Frauen als von Männern besucht; insbesondere geschiedene allein lebende Frauen mit Kind(ern) oder pensionierte, verwitwete Frauen im Alter bzw. Hochalter sind die Kundinnen. Nicht zuletzt ist der ethnische Charakter der Sozialmarktkundschaft auffällig. Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund (ohne diesen Begriff zu befürworten) ist in den Sozialmärkten überproportional hoch. Ein Merkmal ist aber all diesen Menschen gemeinsam nämlich die Mittellosigkeit. Ihnen fehlt es an einer Möglichkeit, sich am Erwerbsleben zu beteiligen. Sie werden sozusagen der «wohlfahrtstaatlichen Nahversorgung» übergeben. Solche Menschen werden von der Mehrheitsbevölkerung allzu schnell als «Sozialschmarotzer_innen» abgestempelt.

 

Bevor Kund_innen den Sozialmarkt aufsuchen, erscheint die Umgebung des Marktes neutral, unauffällig und normal. Der Tag beginnt für die Anrainer_innen ganz routiniert, einfach und problemlos. Betreten aber Sozialmarktkund_innen das Terrain, wird der Raum «praktisch umgedeutet» und erfüllt nun eine andere Funktion. Der öffentliche Raum ist nicht mehr durch ein Vorbeigehen gekennzeichnet, sondern er wird «besezt». Menschenmengen stehen vor den Türen des Marktes und warten auf Geschäftseröffnung. Vorbeigehende Anrainer_innen werfen skeptische Blicke auf die Masse und gehen interesselos weiter. Viele wissen nicht, dass ein Sozialmarkt der Grund des Gedränges ist.

 

Steht der Sozialmarkt in einem sozialen «Widerspruch» zur Umgebung (Bezirk), ist die Atmosphäre eher trüb gestimmt, und den Anrainer_innen wird, wenn auch nur ein paar Stunden am Tag, Prekarität ins Bewusstsein gerufen. Für ein paar Stunden wird ihr Reich von den «Eindringlingen» besetzt, die nach Erledigung ihres Einkaufs den Ort wieder verlassen. Der Mensch ist das, was das Geld aus ihm gemacht hat. Das Gefühl des Nicht-hierher-Gehörens der Sozialmarkt-Kund_innen wird dementsprechend demonstrativ durch Abneigung und Interesselosigkeit der Anrainer_innen vermittelt; es ist in den Straßen, Ecken und Bauten festgeschrieben.

 

Wie kann man einen Sozialmarkt in der Stadt übersehen, auch wenn man doch tagtäglich an diesem vorbeigeht? Es ist möglich! Auch wenn man gezielt nach ihm sucht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, ihn nicht auf Anhieb zu finden. Diese Tatsache kann man so erklären, dass Sozialmärkte als Orte der Prekarität im Stadtraum durch bestimmte Instrumente unsichtbar gehalten werden. Einmal kommt es vor, dass diese Einrichtung nicht als «Sozialmarkt» gekennzeichnet ist, sondern das Image eines üblichen Supermarktes annimmt. Andererseits kann es passieren, dass der Sozialmarkt von außen eine Geschlossenheit vermittelt. Abgedunkelte Fenster, keine Außenbeleuchtung, Lage in einer versteckten Gasse in einer Wohngegend oder in zentrumsfernen Bezirken können als Mittel aufgezählt werden, um die Sozialmärkte im stadträumlichen Kontext leicht verschwinden zu lassen.

 

Die Belegschaft des Sozialmarktes ist oft ähnlich prekären Verhältnissen zuzuordnen wie die Kund_innen. Das führt nicht unbedingt zu einer Solidarisierung. Eine Dissonanz zwischen den beiden Gruppen ist nicht ausgeschlossen, zumal der Existenzkampf der einen Gruppe in eine Missachtung der kulturell und ethnisch «Anderen» führt. Der Arbeitsplatz Sozialmarkt wird Personen, denen lange Zeit der Eingang in den Arbeitsmarkt verwehrt blieb, als Übergangslösung angeboten. Das scheint mit der Idee des Sozialmarktes sehr gut zusammenzupassen. Die Arbeitslosenunterstützung wird weiterhin vom AMS ausbezahlt. Ob diese Personen nachher wirklich eine längerfristige Arbeitsstelle finden, bleibt unerforscht. Wahrscheinlich ist, dass ihre Integration in den «regulären» Arbeitsmarkt nicht klappt. So findet Reproduktion des sozialen Randes statt.

 

Der nächste, letzte Teil unserer Beschäftigung mit den Sozialmärkten gilt unter anderem den Beziehungen der Gruppen innerhalb dieser Einrichtung. Basis ist wieder die Studie von vier Studentinnen an der soziologischen Fakultät der Uni Wien, die im Rahmen des zweisemstrigen Praktikums «Prekariat und Stadt» mit Methoden des «teilnehmenden Beobachtens» zwei dieser Sozialmärkte untersucht haben.