Flüchtlingshilfe: Die Lasten sind extrem ungleich verteilt!
Zwischen der libyschen und der sizilianischen Küste hat sich eben die schlimmste Flüchtlingskatastrophe des Mittelmeers ereignet – mit rund 1000 Todesopfern. Der österreichische Bundeskanzler sprach von einer «Schande für Europa», ordnet sich aber voll der EU-Politik unter, die eine legale Einreise der Flüchtlinge ausschließt – und dadurch weitere Katastrophen in Kauf nimmt. Österreich schottet sich ab und überlässt die Flüchtlingshilfe den armen Ländern. Die türkische Grenzstadt Suruç hat 100.000 Einwohner – und nahm 68.000 Flüchtlinge auf. Hülya Tektaş, eine Kurdin im Wiener Exil, hat das solidarische Suruç besucht.
Foto: Hülya Tektaş
Am 15. September 2014 begann der unerbittliche Kampf um Kobanê, der die Welt über vier Monate lang den Atem anhalten ließ. Die sogenannten IS-Milizen griffen an diesem Tag den von Kurden selbstverwalteten Kanton Kobanê in Syrien an ‒ womit sich das Leben auch für uns Exilkurd_innen grundlegend änderte. Durch Twitter, Facebook & Co. wurde der Kampf um Kobanê auch Teil unseres eigenen Lebens. Die westlichen Medien berichteten jedoch erst später darüber, nachdem die IS-Milizen bereits einen sehr großen Teil der Region unter ihre Kontrolle gebracht hatten und eine große Anzahl der Bevölkerung Kobanê verlassen hatte.
Das Schicksal Kobanês, vor allem jenes der Flüchtlinge, ließ niemanden unberührt. Wir, Exilkurd_innen, schliefen mit unseren Handys direkt neben unseren Betten, lasen nachts aktuelle Nachrichten und Meldungen und analysierten morgens schließlich die Kolumnen bekannter Nahost-Experten. Noch mehr beschäftigte uns jedoch die menschliche Tragödie im Irak und in Syrien und die Frage, wie man den Flüchtlingen helfen könne. Dabei kam ich zu dem Entschluss, die Flüchtlingslager in Suruç zu besuchen, um mir selbst ein Bild von der Situation zu machen.
Die Reise von Diyarbakır nach Suruç dauerte über drei Stunden. Dabei entschied ich mich, ein öffentliches Verkehrsmittel zu nehmen, und fuhr wie die Einheimischen mit einem überfüllten Bus. Als dieser in Suruç ankam, klopfte mir meine Sitznachbarin aufgeregt auf meine Schulter und deutete auf die Flüchtlinge am Straßenrand. Ich zeigte auf die andere Seite der Straße, wo auch viele von ihnen zu sehen waren. In Suruç gibt es überall Flüchtlinge, nicht nur in sogenannten Zeltstädten: Sie fanden bei Familien Platz, in verlassenen Häusern, in Schulhöfen, alte Fabriken und Sportsälen. Die rund 100.00 Seelen zählende Stadt Suruç nahm insgesamt 68.000 Flüchtlinge auf.
Der kleine Hauptplatz von Suruç ist überfüllt mit bärtigen Männern in dunkler Kleidung. Man trifft hier freiwillige Helfer_innen aus aller Welt. Emine, eine Türkin, sagte, dass sie seit dem ersten Tag des Angriffs auf Kobanê in Suruç sei und überall mithelfe, wo ihre Arbeit benötigt würde. Ich traf eine Theatergruppe aus Dänemark, die Auftritte für Kinder organisierte; auch eine Gruppe Japaner_innen besuchte die Flüchtlinge; ein kurdischer Ingenieur aus dem Iran half bei technischen Problemen; zwei italienische Jungjournalisten sowie Krankenpfleger aus der Schweiz waren vor Ort und viele andere Menschen und kleine Vereine und Organisationen aus der ganzen Welt ‒ nur keine großen NGOs und Hilfsorganisationen waren in Suruç anzutreffen. Die prokurdische Partei BDP, die die Stadt verwaltet, organisiert die Flüchtlingslager. Ein von der türkischen Regierung 35 Kilometer außerhalb von Suruç mitten im Niemandsland errichtetes Camp scheint für die Flüchtlinge dagegen nicht besonders attraktiv zu sein. Denn laut Aussagen der Helfer_innen haben einige Flüchtlinge wegen der Assimilationspolitik in den Camps in Form von Türkischunterricht diese Camps verlassen.
Die Solidarität der Einheimischen gegenüber den Flüchtlingen in Suruç ist groß, und das Gefühl des Zusammenhalts und der Hilfsbereitschaft ist überall spürbar. Auch wenn diese Situation für die Stadt und die Einheimischen selbst einen Ausnahmezustand darstellt, stehen die Bedürfnisse und das Wohl der Flüchtlinge im Vordergrund. Ich muss an Österreich und die Situation der Flüchtlinge in meiner neuen Heimat denken. Dort ist die Wohn- und Lebenssituation für sie zwar besser als an der türkisch-syrischen Grenze, jedoch leiden die Flüchtlige dort unter der Xenophobie der Mehrheitsgesellschaft. Der seit vier Jahren dauernde Bürgerkrieg in Syrien hat beinahe vier Millionen Menschen in die Flucht getrieben; nichtsdestoweniger geht in Österreich die Asyldebatte nicht über das Thema hinaus, wo die 1500 Personen, deren Aufnahme zugesagt wurde, untergebracht werden sollen.
Alltag im Flüchtlingslager und das Leben der Kinder
Ein Farbenwirrwarr überrascht die Besucher_innen der Camps seinen weißen Zelte. Denn auf den zwischen den weißen Zelten gespannten Wäscheleinen hängen bunte Kleider. In Suruç finden sich vor allem Kinder, alte Menschen und Frauen in den Flüchtlingslagern. Großteils waren es junge Frauen und Männer, die in Kobanê zurückblieben, um den Kanton zu verteidigen. Die Mahlzeiten werden von den Stadtverwaltungen organisiert, kochen müssen die Flüchtlinge nicht. Allerdings sind die Frauen mit anderen Arbeiten ganztags beschäftigt: Sie waschen Wäsche, Geschirr oder kehren mit einem Besen. Sie sind stets in Bewegung.
Die von der BDP betreuten Flüchtlingslager haben plakative und symbolische Namen wie «Kobanê», «Rojava» (eine kurdische Region in Syrien), «Arin Mirkan» (benannt nach der kurdischen Selbstmordattentäterin) und „Kader Ortakaya“ (benannt nach der von türkischen Soldaten ermordeten Friedensaktivistin). In dem zuletzt errichteten Lager gibt es noch keinen Strom, und es herrschen schlechte Bedingungen. Die Kinder lässt dies jedoch unbeeindruckt, und so spielen sie unbekümmert wie sonst auch. Die Kinder machen beinahe die Hälfte der Flüchtlinge aus. Für die mit den vielen Arbeiten überforderten Frauen sind die nach Aufmerksamkeit hungrigen Kinder jedoch wie eine Plage. Ich meinerseits konnte der Einladung der Kinder zum Spielen nicht widerstehen. So spielte ich mit ihnen und gewann sehr schnell ihr Vertrauen. Die Kinder sangen mir Lieder vor, verpetzten ihre Freunde, baten mich, von ihnen Fotos zu machen. Teilweise barfüßig, in zu großer oder zu kleiner Kleidung aus gespendeten Sachen, unterhalten sie sich auch ohne Spielzeug. In der Zeit, in der ich dort war, gehörte ich zu ihnen. Sie nahmen mich sofort auf, erwiderten meine Umarmungen und schenkten mir ihr herzliches Lachen ‒ sogar für immer, als in Fotos festgehaltene Momente.
Eine Frage lässt mich aber bis jetzt nicht los: Welche Zukunft haben die Kinder von Kobanê zu erwarten? Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit werden einige davon als Guerilla am Kampf teilnehmen, andere gegen die politische Gewalt demonstrieren und Steine auf Soldaten werfen, und wieder andere werden verhaftet werden. Nur wenige werden es bis nach Europa schaffen, wo sie gegen andere Schwierigkeiten, wie Fremdenfeindlichkeit, kämpfen müssen. Es ist also eine ungewisse Zukunft, die die Kinder in den Kriegsregionen erwartet.