Textgeländer gebenDichter Innenteil

Am 14. Juni «tagte» die Augustin-Geschichtenwerkstatt im Hof (Foto: Mario Lang)

Übers Schreiben schreiben? Schreiben anregen und «anleiten»? In der Augustin-Geschichtenwerkstatt schreiben Verkäufer:innen und Leser:innen Kinderorte-Listen und Haikus, sie erfahren die Stadt in Schichten zu sehen. Eine Reportage aus der augustinischen Schreib- und Erzählgruppe.

«Ich bin eingeladen, weil ich so blöd reden tue», lacht der Augustin-Verkäufer mit den rosa Plastikrosen am Ziehwagen. «Ich habe eine Idee gehabt, deswegen bin ich zur Schreibwerkstatt gekommen. Ich bin ein Haiku.» Er umarmt den neben ihm sitzenden Augustin-Verkäufer Andi, das «Maskottchen» vom Augustin-Vertrieb, der immer sehr viel zu erzählen hat. «Kopf her», sagt der Verkäufer zu Andi, und die beiden legen ihre Köpfe aneinander und strahlen in die Gegend. «Heute schreiben wir gar nicht mit dem Stift», erklärt ­Jenny Legenstein, Augustin-Redakteurin für den «dichter innenteil». «Wir kleben und picken Bilder und Sätze, so als ob man den Augustin in die Schreddermaschine schmeißt und es kommt nur die Quintessenz heraus.»
«Meine Idee war der Haiku – wegen dem Rhythmus», unterbricht der Verkäufer, «Sag in einem Satz …» «Was?», fragt Andi. «Das, was du zu sagen hast. Da kann man ausspucken, was man zu sagen hat.» Die beiden amüsieren sich, die anderen in der Schreibgruppe picken derweil Wörter und Bilder zusammen, die den Augustin symbolisieren sollen. «Unser letztes Hemd für den Augustin», klebt eine Teilnehmerin, ein Besucher hingegen: «Kopfstand». Zwei Augustin-Leserinnen befinden «Demokratie ist nicht gratis», «In der Mitte der Gesellschaft stehen» und «Wer kann hier nicht lesen», als typisch für den Augustin. Andere: «­Unordentlich was los» oder «Machtlos und gespalten, vorsichtig und Platz lassend». Der Haiku-Verkäufer improvisiert derweil: «Das Wort ist ein Chaos. Ich baue ein Haus draus. Da läuft eine Maus.» Er zählt an den Fingern die Wörter ab. «Das sind zwei Haikus übereinander verpickt», ­behauptet er, bevor er rasant und unauffällig in Richtung Vertriebsbüro verschwindet. Andi hält es auch nicht viel länger im kreativen Treiben.

Verwickelte Geschichten

«Obdach­lose oder ehemals Obdachlose wollen gar nicht immer auf ihre traurige Lebensgeschichte reduziert werden», sagt ­Jenny Legenstein. «Augustin-Mit-­Gründer ­Robert Sommer nahm ganz bewusst nicht allein Betroffenheits-­Texte oder solche über die Lebenssituation in die Zeitung auf.» Die Schreibwerkstatt gab es von ­Anfang an. Unterschiedliche Menschen wie Franz Blaha oder Didi Sommer leiteten sie an. Zu Beginn gab es ­Kooperationen mit Schreibgruppen wie dem Häferl, also Haftentlassenen, bzw. mit Schreibenden, die noch in Haft ­waren. Legendär zum Beispiel die ­Texte des Einbrecherkönigs von Wien. ­Mehrere Buch-Bände erschienen sogar in der Edition Uhudla (wie Es ist fad, ohne Cognac auf den Weltuntergang zu warten). Augustin-Verkäufer wie Strawi, Smokey, Luvi oder Gottfried (mit seiner beliebten Tagebuch-Kolumne bis jetzt) waren vom Augustin-Anfang an ­dabei. «Luvi und Strawi gingen sogar mit ­Lesungen auf Tour. Heidi vom Stimmgewitter ­improvisierte zum Beispiel frei auf der Bühne», berichtet Jenny. Es folgt eine verwickelte Geschichte, wie Luvi erst viel zu spät Innsbruck erreichte und sich nicht mehr an den Namen des Tageszentrums erinnerte, in dem er hätte lesen sollen. Unvergesslich ein Abend im ehemaligen Ost Klub am Schwarzenbergplatz, als Augustin-Verkäufer:innen souverän einen Poetry Slam gestalteten.
«Irgendwann war die Schreibwerkstatt nicht mehr so populär, es war vielleicht nicht mehr so ein Bedürfnis, sich schriftlich auszudrücken», erzählt ­Jenny, «die Verkäufer:innenstruktur ­änderte sich im Laufe der Jahre. Viele können nicht gut Deutsch, einige sind nicht in ­lateinischer Schrift alphabetisiert. Wie kann sich die Geschichtenwerkstatt öffnen, ist eine Frage, die wir uns in der Geschichtenwerkstatt-Arbeitsgruppe stellen.» Sie selbst fand Lesen und Schreiben immer schon faszinierend, super fand sie es, für ihre Grundschul-Freundinnen schaurige Geschichten zu schreiben, «aber ich habe nie einen Schluss gefunden.»

Mundart und Schimpfwörter

Als Robert Sommer in Pension ging, übernahm es der anarchistische Literat höchstpersönlich, die Schreibwerkstatt anzukurbeln und lud Gäste ein wie Ernst Stöckl, der den ersten Band des Schärdinger Wörterbuch der Mundart und Umgangssprache ­vorstellte. Oder es wurde über das populäre Thema ­Schimpfen mit ­Peter Ahorner (der das Handbuch der österreichischen Schimpfwörter schrieb) diskutiert und improvisiert. Danach gab es zwei ­Jahre Pause. Bis Sylvia Galosi vom ­Augustin-Vertrieb, Jenny Legenstein aus der Print-Redaktion und die Fernseh- und Radiomacherin ­Christina Steinle sich ein neues Konzept für die Schreibwerkstatt überlegten und sie 2021 als Augustin-Geschichtenwerkstatt wieder aufleben ließen. Entschieden hatten sie auch, eine professionelle Schreibtrainerin zu suchen – sie fanden eine Stadtschreiberin, die den Augustin liebt. «Schreib- und Erzählimpulse geben hätten wir aus dem Stegreif nicht selber zusammengebracht», resümiert Jenny. Brigitta Höpler, die selbst Schreibseminare in unterschiedlichen Settings hält und im Augustin u. a. die Kolumne «(W)Orte. Fotonotizen» hatte, war die Wunschkandidatin, die die «Schreibwütigen» in der Geschichtenwerkstatt nun zwei Jahre lang anleitete.

Verdichtung des Gesichtsfelds

Ein Holztisch steht im Augustin-Innenhof, sonnenblumengelb und grün gestrichen, ein rosa Polstersessel, hellgrüne Palettenmöbel. «Störe mich nicht bei meinen Visionen», warnt sinngemäß eine Inschrift hinten auf der Jeansjacke eines Kolporteurs. Die Seiten auf den Klemmbrettern der Geschichtenwerkstatt-Teilnehmer:innen sind ganz schön voll beschrieben – die Idee war es, draußen vor der Türe auf der Reinprechtsdorfer Straße auf Wänden und Plakaten Wörter zu finden. Lieblingswort der afrikanischen Kolporteurin ­Esther wird auf diese Weise «Siebenbrunnen». Aus dem Straßenschreibzeug soll man einen Text erstellen, eine «Verdichtung des Gesichtsfeldes». «Ich liebe dich, du alte Flöte», kommt heraus oder «­Never stop hooping». «Mein Baby and me, wir machen eine Umleitung. Der Einstieg ist jederzeit möglich.» Die Stadt als Collage, in Schichten gesehen: «Ich bleibe bei meinen kleinen Text­sorten», sagt ­Brigitta ­Höpler, Inspirationslieferantin von Beruf, am gelbgrünen Holztisch sitzend. «Ich kann mir nur schwer etwas ausdenken. Kleine Sachen geben Textgeländer. Ich schreibe aus der Stadt heraus.» Ihr Vater unternahm gern Spaziergänge durch Wien: «Er liebte es, die Stadt zu bewohnen, umherzuflanieren und Orte und Worte zusammenzubringen. ­Stadtorte haben immer noch ­etwas dahinter, so ­hörte ich als Kind ­mythologisiert und ausgeschmückt zum Beispiel vom Wiener Basilisken und seinem wahren Hintergrund.» Der Basi­lisk ist übrigens eine Mischung zwischen Huhn und Kröte aus dem Jahre 1212 und in der Schönlaterngasse zu besichtigen. Brigitta brachte das Buch Stadtschrift. Radau. Wien von Bodo Hell zur Werkstatt mit. «Bodo Hell schrieb in der Straßenbahn und im 13A. Hingeschmiertes, Hingekritzeltes. Schreiben bedeutet auf den Zufall vertrauen, dass mir etwas zufällt.»

Nicht verkopft

Augustin-Vertrieblerin Sylvia Galosi macht gerade an Wochenenden an der Alice Salomon Hochschule Berlin eine Ausbildung zur ­Schreibtrainerin. «Es geht darum, wie und in welchem Setting man Schreiben pädagogisch weitergibt», sagt sie. «Wie wandle ich mein ­Schreiben auf dem Abstellgleis in spannende Projekte um. Über Brigitta habe ich mich viel mit visueller Poesie beschäftigt, sie arbeitet oft mit Mischungen von Bildern und Texten. So gibt es Momente der Irritation. Man kommt schneller ins Tun und ist nicht so verkopft, wenn man mit den Händen etwas macht.» Das sei klarerweise besser, als vor dem leeren Blatt zu sitzen und zu denken «die Worte sollten jetzt aus mir herauskommen». Letztes Jahr wurden viele Listen geschrieben, wie etwa eine ­Liste der Lieblingsorte der Kindheit. «­Unsere derzeitigen Verkäufer:innen ­haben existenziell mit dem Überleben zu tun. ­Schreiben ist für sie daher zu ­abstrakt und hochschwellig. Aber sie möchten ­Geschichten weitergeben. Die verstorbene Anna von der Josefstädter Straße ­erzählte zum Beispiel oft von ihrem Lieblingsort Maria Enzersdorf und den Blumen dort.»

Im Herbst geht es weiter

Schon in der Volksschule tauschte Sylvia mit ihrer besten Freundin in einem kleinen Büchlein «Denk-Briefe» hin und her. «Wir machten uns aus, dass wir alles aufschreiben, was wir im Kopf haben. Eine frühe Übung in Freewriting», lacht sie. «Schreiben verbindet uns. Wir schreiben uns jetzt wieder richtige Briefe – mit der Post.» Die ­Augustin-Geschichtenwerkstatt geht im Herbst mit neuen Impulsen weiter.

 

Die Augustin-Geschichtenwerkstatt 2023

Dreimal stand in diesem Frühjahr die Augustin-Geschichtenwerkstatt im Terminkalender. Am 19. April wurde in die «Wort Fundgrube» gegriffen. Aus Zeitungsschnipseln klebten die Teilnehmer:innen Wortcollagen ohne und mit Themenvorgaben. In der Mai-Ausgabe der ­Geschichtenwerkstatt wurde wieder geschnitten und geklebt, diesmal ging es darum, aus ­Augustin-Ausgaben die Essenz der «Ersten österreichischen Boulevardzeitung» darzustellen und alternative Wunschcover zu kreieren. In der abschließenden Runde am 14. Juni ging es raus in die Umgebung des Augustin-Hauses, um «Wegworte» zu sammeln – Graffity, Schilder, Plakate, ­Geschäftsnamen, Aufschriften aller Art … – Ausgangsmaterial für Lyrik und Erzählendes.
Die Geschichtenwerkstatt-Termine im Herbst sind der 20. September, der 18. Oktober und der 15. November.

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