Zehn junge Menschen aus der Ukraine verarbeiten ihre Fluchterfahrung auf und hinter der Bühne. Dramatikerin Oksana Maslova steht ihnen zur Seite.
«Und, gibt es Proben während der Ferien?», fragt mich die Mutter von Anne. Anne ist gerade erst neun Jahre alt geworden und die jüngste Teilnehmerin des Dramaturgie-Labors für Kinder aus der Ukraine in Wien. «Anne sagt, dass sie ohne Theater nicht mehr leben kann. Sie will keine Probe verpassen.» Alle anderen Kinder und Eltern, die noch nicht gegangen sind, starren mich ebenfalls an und warten auf die Antwort. Selbst diejenigen, die früher gegangen sind, werden später diese Frage in unseren gemeinsamen Chat schreiben.
Jedes Wochenende öffne ich die Türen und betrete das Theatergebäude des Dschungel Wien, eines von vielen Einrichtungen, die wir kostenlos nutzen können. Dann stürzen Kinder herein – aus verschiedenen Städten der Ukraine, mit unterschiedlichen Erfahrungen, persönlichen Verlusten und dicken Spiralblöcken voller Ideen, Handlungen und Charaktere.
Auf der Suche nach dem Anfang
Aufgrund des Krieges in der Ukraine musste ich 2023 mit meiner Tochter unser Zuhause in Odesa verlassen. In Wien suchte ich nach Beschäftigungsmöglichkeiten. Bald erfuhr ich über das «Office Ukraine. Shelter for Ukrainian Artists» von Arbeitsstipendien des Kulturministeriums an ukrainische Künstler:innen, und wurde in das Artist-in-Residency-Programm Mothering the (M)other für alleinerziehende Mütter aufgenommen. Ich hatte drei Monate Zeit, um eine Performance über Mutterschaft in Kriegszeiten und während der Flucht zu kreieren. Was ich anbieten könnte? Null Deutschkenntnisse, vollkommene Unsicherheit.
Es scheint, als wären von meinem Leben vor dem Krieg nur Träume übrig geblieben: die Notwendigkeit zu schreiben, die Liebe zu Kindern und Theater. So entstand die Idee des Dramaturgie-Labors für Kinder aus der Ukraine, das «Young Drama. Exploring New Meanings Laboratory». Das Ziel des Labors ist es, eine künstlerische Reflexion zu schaffen, in einem sicheren Raum, mit Kindern, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und hier neu angesiedelt sind. Kinder aus verschiedenen Städten der Ukraine machen mit: aus Charkiw, Dnipro, Kyjiw, Odesa und Lwiw. Sie machen sich damit auf die Suche nach einem neuen Lebenssinn. Ehrlich gestanden wollte ich auch selbst diesen neuen Sinn finden. Das Ziel ist außerdem, diese künstlerische Auseinandersetzung öffentlich zu präsentieren.
Wir machten Theater
Innerhalb von drei Monaten haben zehn junge Menschen von neun bis 14 Jahren, die keine dramaturgische Vorerfahrung hatten, zusammen unter meiner Leitung ein zweisprachiges Stück auf die Bühne gebracht. Als das Stück Xzehn auf der Suche nach Sinn erstmals als Performance-Lesung im Theater Dschungel im Juli 2023 aufgeführt wurde, übertraf die Anzahl der reservierten Plätze die Anzahl der Sitze im Auditorium.
Ich wollte mit dem Stück einen Raum schaffen, in dem wir alle einen neuen Sinn finden können. Denn erwachsen zu werden ist nicht einfach, insbesondere in Zeiten des Krieges, in einem neuen Land, mit Sprachen und Traditionen, die man nicht kennt. Man findet sich plötzlich an einem neuen Ort wieder und muss weiterleben, unter den gegebenen Umständen: ohne alte Freund:innen, vertraute Spielplätze, die gewohnte Schule, liebgewonnene Orte. Mit einem leeren Blatt.
Tag für Tag erdachten, diskutierten und schrieben die Kinder ihre Texte. In einem solchen Raum gibt es keinen Platz für Krieg. Zumindest wollte ich den Krieg nicht hierherlassen. Trotz aller Nachrichten. Das Labor ist ein Raum der Fantasie, deshalb sprechen wir nicht über Krieg. Oder besser gesagt: Wir versuchen nicht darüber zu sprechen.
Wir sprechen über das Zuhause, über Träume, Ängste, über Freund:innenschaft und Familie. Aber der Krieg ist auch Teil davon. Krieg ist eine Erfahrung, der man schwer entkommt. Aufmerksame Zuschauer:innen merken, wie der Krieg Vorstellungen von Zuhause und Lebenssinn formt und vielmehr verformt.
Jedes Kind schuf seinen eigenen Charakter. Xzehn auf der Suche nach Sinn ist die Geschichte davon, wie seltsame Kreaturen – von Katzen mit Flügeln bis hin zum mutigsten Huhn der Welt – zufällig in einem geschlossenen Raum landen und wie sie nach einem Ausweg suchen. Jede dieser Figuren ist – trotz aller Absurdität und Unmöglichkeit – auf magische Weise ein Spiegel der inneren Welt jedes dieser Kinder.
Der Text ist gleichzeitig dynamisch und kindlich tiefgründig wie auch philosophisch. Ideen, Charaktere und Dialoge wurden von den Kindern selbst geschaffen. Als Dramatikerin und Kuratorin habe ich an der Balance und Dynamik der Geschichte gearbeitet. Wie ist uns das gelungen?
Das Labor ist weder ein Theaterstudio noch ein Laientheater. Ich unterrichte Kinder nicht darin, Rollen zu lernen und auf der Bühne zu agieren. Ich lade Kinder ein, tiefer zu schauen, über Ursachen und Motive nachzudenken, zu analysieren und zu verstehen, was genau den Charakter beeinflusst. Ich lehre sie, Handlungen für die Charaktere zu entwickeln und zu beobachten, wie diese auf der Bühne umgesetzt werden können. Deshalb wirken die Charaktere so lebendig, so verständlich für das Publikum, und die jungen Teilnehmer:innen des Dramaturgie-Labors verkörpern ihre Charaktere auf der Bühne sehr genau, ohne jeglichen schauspielerischen Hintergrund.
Märchenfiguren werden zu metaphorischen Vorstellungen, mit denen Kinder sich auf einer tiefen Ebene identifizieren können, jenseits einer direkten Erzählung ihrer eigenen Geschichte. Gemeinsam schaffen diese Dynamiken eine sichere und belebende Plattform für Kinder, die sich so mit verschiedenen Strategien zur Bewältigung von emotionalen Herausforderungen auseinandersetzen. Die Märchenfiguren bieten ihnen einen Raum der Freiheit und kreativen Erkundung, wodurch gleichzeitig Fähigkeiten in Selbstausdruck und kritischem Denken gefördert werden.
Diese Transformation beschränkt sich nicht auf die Handlungsstränge. «Mein Sohn schien mit jeder Theaterprobe an Stärke zu gewinnen, wurde selbstbewusster», sagt Tetiana Zhmudenko, Mutter eines teilnehmenden Kindes. «Er begann öffentliche Verkehrsmittel alleine zu benutzen und wurde verantwortungsbewusster. Ich erwartete, dass aus diesem Prozess ein kleines Stück mit einer bedeutungsvollen Botschaft entstehen würde», fährt sie fort, «dieser Auftritt erwies sich jedoch als so tief, mit faszinierenden Charakteren, die teilweise aus der Vorstellungskraft und teilweise aus den Erfahrungen der Kinder stammen.»
Vorbereitung des Frühlings
Heute öffne ich die Türen des Theaters, um gemeinsam mit den Kindern in die Welt der Geschichten einzutauchen, die wir selbst nach den Regeln der Dramaturgie kreieren. Oft lachen wir, in Wahrheit lachen wir fast die ganze Zeit, und wir streiten, applaudieren einander. Während der Aufführungen sehe ich vom Backstage-Bereich aus, wie das Publikum im Saal genau dort lacht, wo es auch uns Spaß macht. Und ich sehe, wie tief ihre Blicke werden, wenn die Charaktere sich in aller Ehrlichkeit offenbaren. Nach der ersten Aufführung verließen die Kinder die Bühne lange nicht, sie wollten nicht gehen, sie sagten: «So eine warme Atmosphäre, man möchte noch eine weitere Minute hier bleiben.»
Nun zeigen wir im Theater Dschungel unser neues Stück Wie den Frühling beschwören? und laden herzlich dazu ein, gemeinsam mit uns in diese Geschichte einzutauchen – über Frühling, Träume und Magie.
Wie den Frühling beschwören?
23. März, 17.30 Uhr
Dschungel Wien
7., Museumsplatz 1
www.dschungelwien.at
Sprachen: Ukrainisch/Deutsch
Eintritt frei
Anmeldung unter enmdramlab@gmail.com