Theater ohne DefizitArtistin

Das Ensemble des Theater Delphin (Foto: © Carolina Frank)

Im Theater Delphin ist selbstverständlich, was andernorts «Inklusion» genannt wird: Schauspieler:innen mit Behinderung stehen auf der Bühne. Heuer startet das Theater seinen ersten Schauspiellehrgang.

Der goldene Apfel rollt in den Raum. Ein Streit um ihn entflammt unter den griechischen Göttinnen in weißen Roben: Wer ist die Schönste und darf ihn nehmen? Nicht uneigennützig tritt Paris auf und schlichtet den Disput, will er doch so die schöne Helena erobern, was schließlich zum Trojanischen Krieg führt. Es ist Probentag im Theater Delphin. Mit dieser Szene beginnt die Vorbereitung für die nächste Produktion, Kassandras Geheimnis: eine Neuschreibung der Geschichte der weissagenden Kassandra aus der griechischen Mythologie. Im März steht die Premiere an, diesen Montag wird es langsam ernst. Die ersten Kostüme sind gekommen und am Wochenende will das Ensemble Ausschnitte beim Fest der Inklusion in der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien vorstellen. Normalerweise aber wird vor Ort gespielt, im eigenen Bühnenraum in der Leopoldstädter Blumauergasse, in dem auch Kurse und Proben stattfinden. Jeden Montag bereitet sich das Kassandra-Team derzeit auf seine Auftritte vor, diesmal schon in ausgesuchten Outfits.

Bin ich gut genug?

Bianca Bruckner hat sich für die Rolle als Kassandras Gehilfin für einen Pelz entschieden, die Kopfbe­deckung mit Tierschädel verrutscht noch. Sie weiß zu improvisieren, seit rund zwanzig Jahren spielt sie bereits im Theater Delphin mit. Neben ihr wartet Anna Fellner auf den Einsatz und trägt dabei für die Verkörperung einer Wirtin eine Schürze. Sie ist aufgeregt, denn erst seit Kurzem besucht sie das Schauspieltraining und darf nun erstmals in einem Stück mitspielen. «Bin ich nicht gut genug, bin ich ihnen zu dumm?», setzt sie mit ihrem Sprechpart ein. Eine Frage, die sich an diesem Ort nur die von ihr gespielte Figur stellen muss, auch wenn Anna mit einer Beeinträchtigung lebt. Im Theater Delphin geht es nicht darum, auf vermeintliche Defizite hinzuweisen. Vielmehr soll es ein Platz für Schauspielbegeisterte sein, um herauszufinden und zu zeigen, was in ihnen steckt, gleich, ob sie Lai:innen oder Profis sind, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. So will man Bewusstsein für Inklusion im Theater schaffen – das anderswo fehlt.

Teamplay ohne Unterschiede

«Theater.spannend.anders»: Das Motto des Theater Delphin betont Andersartigkeit. Die Bezeichnung «Inklusionstheater» sei allerdings eher ein Schlagwort, das der Einordnung diene. Selbst habe man eine differenziertere Vorstellung vom gemeinsamen Theaterbetrieb von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, sagt Georg Wagner. Er ist hier für Technik und Produktionsleitung verantwortlich. «Die Vision wäre, dass man nicht über Inklusion reden müsste, sondern dass es selbstverständlich ist, Menschen mit Behinderung auf der Bühne zu sehen», so Wagner, der nach der Probe neben seiner Lebensgefährtin im Zuschauerraum Platz genommen hat. Gabriele Weber gründete den Verein Theater Delphin 1998, als sie erkannte, dass ihr behinderter Sohn sich mit Musik, Bewegung und Schauspiel ausdrücken konnte. Sie schrieb für ihn und sein Bühnentalent damals das erste Theaterstück, wenige Zeit später stieg der Pädagoge Georg Wagner neben seinem Beruf mit ein und schon standen sie mittendrin. «Seitdem ist der künstlerische Aspekt schon ein bisschen mehr angekommen: dass es darum geht, dass die Person auf der Bühne eine Rolle spielt», meint die Leiterin, die ringsum warmherzig als Gabi angesprochen wird. Die familiäre Atmosphäre ist bemerkbar und ist auch, was die Probenteilnehmer:innen die «Besonderheit des Theater Delphin» nennen.
«Wir unterstützen einander alle und machen die meisten Dinge gemeinsam», erzählt Alex Spreitzer, noch bevor alle Probenden eintrudeln. Drei Jahre ist sie bald Teil des Betriebes. Ehe sie demnächst ins Ausland umzieht, kümmert sie sich um Marketing, Spenden und die Organisation und nimmt Podcasts mit Gesprächen rund um das Theater auf. Was ihr in ihrer Zeit am Theater auffiel: Andernorts werde zwar über Inklusion gesprochen, aber es gehe darum sie zu leben und Menschen wie sie – ihre Beeinträchtigung ist kognitiv – oder ihre Rollstuhl fahrende Kollegin Agnes Bichler nicht an den Rand zu stellen. «Sie kann viel mehr als ihr Rollstuhl!», ereifert sie sich. «Hier wird uns auch zugetraut, Dinge alleine zu machen. Agnes und ich haben ganz alleine ein Event auf die Beine gestellt», schildert sie. «Die Gabi schubst uns gerne ins kalte Wasser», fügt Agnes hinzu. 2022 nahm sie am Schauspieltraining teil, zu dem ein Schulkollege sie mitgenommen hatte. Es dauerte, bis sie den Sprung selbst wagte, doch dann merkte sie, dass man es ihr zutraute. Inzwischen hat sie die Pressearbeit übernommen. Als gelernte Bürokauffrau war Agnes lange auf Jobsuche; dass sie eine Assistenzperson braucht, erwies sich oft als hinderlich. «Viele sind sich nicht bewusst, dass Menschen mit einem Handicap mehr Unterstützung brauchen.»

Mut zur Ausbildung

Außerhalb vom Theater Delphin kennt Agnes wie viele ihres Teams selbst keine weiteren Schauspieler:innen mit Behinderungen. «Dann werden Menschen für eine Rolle in den Rollstuhl gesetzt, die gar nicht behindert sind», fällt ihr auf. Bei Kassandras Geheimnis spielen, wie bereits bei anderen Stücken, Menschen von außerhalb mit: Alessio Romanelli etwa, der, von der Schauspielakademie Elfriede Ott kommend, für die Rolle des Paris vorsprach. Er und andere Gecastete lernen jetzt neben langjährigen Mitspielenden wie Marcell Vala als Zeurelius im Rollstuhl oder Judith Czerny­ im Glitzeranzug sowie Neulingen wie Anna, auch mal flexibel zu improvisieren. Hier müssen nicht die Personen mit Behinderung versuchen, auf vermeintliche Normalität zu reagieren, sondern andersherum – Schauspieler:innen von der Schauspielschule lernen, sich an das Ensemble des Theater Delphin anzupassen.
Eine Schauspielschule gibt es nun auch vor Ort: Der erste hauseigene inklusive Schauspiellehrgang läuft zwei Jahre lang ab Februar und endet mit Diplom. Dafür hielten Wagner und Weber Workshops in betreuten Einrichtungen, um die Möglichkeit bekannt zu machen – viele behinderte Menschen könnten sich außerhalb von Tagesstrukturen kaum entfalten. Auch viele aus den wöchentlichen Theaterkursen, die bisher schon angeboten wurden, nehmen am Lehrgang teil, unter ihnen Marcell, der seit Langem jeden Montag kommt. In Zukunft wird er daneben auch Unterricht in verschiedenen Fächern erhalten, von Gabi und Georg wie von externen Dozent:innen mit oder ohne Behinderung. Sie hätten damit auf einen gestiegenen Bedarf reagiert, sagt Gabi Weber. Wobei eine Bewerbung nötig ist: Im Theater Delphin soll die Qualität passen, Schauspieler:innen werden professionell ernst genommen. Dafür soll der Lehrgang Grundlagen mitgeben, die anderswo eingesetzt helfen, Teil des regulären Kulturbetriebs zu sein. «Wir wollen, dass die Leute von uns in die Welt hinausströmen und so viele Chancen wie möglich bekommen», sagt Georg.

Barrieren abbauen kostet Geld

Dazu braucht es Geld für die Finanzierung: Barrierefreiheit kostet. «Fördergeber tun sich schwer einzuordnen, wo wir reinpassen», erzählt Gabi. Bis jetzt seien Anträge beim Fonds Soziales Wien oder der Abteilung für Integration und Diversität der Stadt Wien gescheitert, auch wenn die Stadt Wien einen Jahresschwerpunkt Inklusion gesetzt hat. «Wir kriegen einiges vom Bezirksbudget, haben zwei Sponsoren und Licht ins Dunkel an unserer Seite, mit den öffentlichen Geldern ist es schwierig», sagt sie. «Da müsste sich politisch etwas tun, damit erkannt wird, dass Inklusion nicht nur ein Wort ist.» Was sie mit einem gestandenen Budget machen würden? Noch mehr Professionalisierung ermöglichen und ein größeres Haus für den Theaterbetrieb nehmen, gerne mit gleichgesinnten Theatermachenden unter einem Dach. Der jetzige Standort birst.
Im nächsten Schritt machen jetzt jedenfalls zwölf Teilnehmer:innen zwei Lehrgangsjahre mit. Und im regulären Betrieb des Theater Delphin steht dieses Jahr ein Schwerpunkt zum Thema «Starke Frauen» auf dem Programm: Kassandras Geheimnis läutet es ein, blickt Gabi Weber am Ende des Probenabends voraus. «Bei unseren Inszenierungen ist immer eine Geschichte zu der Frage dabei: Wie kann jemand, der vielleicht nicht der Gesellschaft entspricht, stärker werden?»

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