Theater vor Überwachungskameras: Big Brother reizenArtistin

Surveillance Camera Players

Videoüberwachungssysteme zum Zweck der „allgemeinen Sicherheit“ sind längst keine Randerscheinung mehr. Bahnhöfe, U-Bahnstationen und Plätze werden überwacht. Nicht nur im fernen Amerika, auch immer mehr in Europa. Aber wo führt das hin? Wird es in Zukunft überall Kameras geben müssen, wenn uns nicht bald was Besseres einfällt? In Großbritannien sind einige dieser Überwachungssysteme mit einer Art Erkennungsprogramm ausgestattet, sodaß PassantInnen jederzeit „überprüft“ werden können. Alle PassantInnen, nicht nur gesuchte VerbrecherInnen. Wer aber kontrolliert die Kontrollorgane? Wer verhindert Mißbrauch? Der gläserne Mensch und George Orwell’s Big Brother. Mitten unter uns. Und es gibt nichts, was diese Entwicklung aufzuhalten scheint.

Eine Gruppe AktivistInnen mit Sitz in New York City, tritt gegen die fortschreitende Ausbreitung von Videoüberwachungssystemen auf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Kurze und stumme Theaterstücke,- z.B. mit dem Titel: „Sie werden zum Zwecke Ihrer Sicherheit überwacht“- werden vor den „Augen“ der Überwachungskameras und des Personals dahinter zur Aufführung gebracht.

Die Surveillance Camera Players (Überwachungskamera-Spieler), so nennen sie sich, sind eine kombinierte Theater- und Protestgruppe. Große Plakate, auf denen der Text für eine Kameralinse deutlich lesbar aufgeschrieben wurde, (denn die meisten Videosysteme übertragen keinen Ton) werden vor die Kameras gehalten. Bewegung, Gesten, Mimik und Requisiten ergänzen den Text, der sich mit den Themen Krieg, Polizeistaat, soziale Kontrolle, Propaganda und der Erstellung von Rassenprofilen beschäftigt. Trotz des ernsten, politischen Anliegens dieser „Aufführungen“, enthalten sie lustige oder komische Momente. Flugblätter, auf denen die Forderungen der AktivistInnen ausformuliert sind, werden an PassantInnen verteilt. Und dann bestimmen Polizeioffiziere und Wachen den Höhepunkt und den von den SpielerInnen gewollten Abschluß der Aktion, wenn sie in das Geschehen einsteigen und dem Ganzen dadurch noch eine Ebene hinzufügen.

Die Aktionen der SCP’s schaffen ein wachsendes Bewußtsein in der Bevölkerung, denn die meisten Menschen wissen gar nichts von der Existenz solcher Überwachungskameras und wenn sie davon erfahren, sind sie entsetzt darüber. Und für eine kurze Zeit, nämlich für die Dauer einer solchen Aktion, wird nicht mehr die unwissende Bevölkerung beobachtet, sondern Polizei und Wachpersonal werden unwissentlich zum Publikum der SpielerInnen gemacht.

Seit der Gründung dieser Aktionsgruppe vor drei Jahren sind die SCP’s zu einer Plattform gegen die Einführung von Videoüberwachungssystemen geworden, Kontakte zu verschiedenen lokalen Bürgerrechtsbewegungen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, sind bereits entstanden. Alle AktivistInnen sind Freiwillige und niemand verfügt über eine schauspielerische Ausbildung oder Erfahrungen in diesem Bereich. Diese Tatsache soll herausstreichen, daß nicht nur bestimmte Gruppen, -Künstler, Schauspieler-, sondern alle Menschen gegen die systematische Kontrolle irgendeiner Elitetruppe auftreten kann und soll.

Keine Beweise, daß Videoüberwachungssysteme die Kriminalitätsrate senken

Mit stummen Theaterstücken vor Kameras und Wachpersonal aufzutreten, scheint reichlich schwach als Kampfmittel gegen die Augen des „Big Brother“. Aber gerade diese Tatsache machen sich die SCP’s zu ihrer Stärke: denn sie können damit sicher niemanden glauben machen, daß ihre Aktionen ausreichen, wenn es darum geht, eine politische, eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Und damit wird nochmals herausgestrichen, daß jede/r von der Problematik betroffen ist.

Ein Beispiel aus Oakland, Californien zeigt, daß dieses Konzept funktionieren kann. Im August vergangenen Jahres gelang es der American Civil Liberties Union, einer Bürgerrechtsbewegung, die Anbringung einer Videoüberwachungsanlage zu verhindern. Ihre Argumente: Es gibt noch immer keinen Beweis dafür, daß Videoüberwachung die Kriminalitätsrate senkt; tausend Kameras werden unser Leben nicht sicherer machen, sie sind höchstens ein weiteres Machtinstrument des Staates.

George Orwell und seine Vision „1984“ hat an Aktualität nichts verloren. Orwell entwarf das Bild einer durchsichtigen Gesellschaft, einer totalen Transparenz, die durch Videoüberwachung (telescreen), physiche Nötigung (Zimmer 101) und Gedankenkontrolle erreicht wird. Es gibt keine „Dunkelheit“ mehr in Orwell’s Vision, keinen Fleck Erde, der nicht sichtbar ist, alles ist „hell“, beleuchtet und durchschaubar.

Nein, wir sind wirklich nicht weit erntfernt davon. Moderne Architektur z.B. – aus Stahlgerüsten und leicht einsichtbaren Glasfassaden erbaute, besonders „zweckmäßige“ Bürogebäude, sind sie nicht ein Produkt dieser Entwicklung? New York City ist weltweit bekannt und berühmt für seine glitzernden Stahl-Glas-Bauten, die weithin sichtbar und durchsichtbar in schwindelnde Höhen wachsen…

Öffentlich die Hosen runter zu lassen, finden viele immer mehr in Ordnung

Aber auch auf einer individuellen und damit auf gesellschaftlicher Ebene entwickelt sich unser Leben immer mehr in Richtung totale Transparenz. Wir wachsen damit auf, daß es gut ist, alles auszusprechen. Wir werden dazu erzogen, es als einen reinigenden Prozeß anzusehen, das Innerste nach Außen zu kehren. Talkshows und Real-TV-Sendungen gaukeln uns vor, daß es erwünscht und unterhaltend ist, vor laufender Kamera intimste Details auszuplaudern, das Leben transparent und öffentlich zu machen. Ganz normale Menschen finden es völlig in Ordnung, öffentlich „die Hosen runterzulassen“, selbst wenn sie wissen, daß sie damit nur der allgemeinen Belustigung dienen. Und wir finden es suspekt, wenn jemand etwas nicht sagen will, etwas „zu verbergen hat“. Wenn Paparazzi hinter dem Privatleben von Prominenten her sind, finden wir daran nichts außergewöhnliches, denn das Leben von öffentlichen Personen ist eben von allgemeinem Interesse.

Eine Gesellschaft, die zur Passivität und zum Zuschauen statt zum Eingreifen erzogen worden ist, akzeptiert nicht nur zweifelhafte Überwachungssysteme, Real-TV und Paparazzi, sondern bringt auch neurotische Formen des Wunsches nach Transparenz, nach öffentlicher Aufmerksamkeit hervor: spektakuläre Morde werden begangen, um sich in den Schlagzeilen von Tageszeitungen erwähnt zu sehen. Jugendliche, Kinder richten Blutbäder an, damit Eltern, LehrerInnen, niemand mehr an ihren Problemen, an ihrem Leben vorbeischauen kann.

Aber auch für Menschen, die sich dieser Entwicklungen durchaus bewußt sind, und die für die Wahrung ihrer Anonymität kämpfen, wird es immer schwieriger, ihre Rechte nicht verletzt zu sehen, etwa wenn sie mit Einrichtungen zu tun haben, die mit Datenvernetzungssystemen ausgestattet sind. Und das sind ja bekanntlich schon fast alle Kaufhäuser.

Die SCP’s sind in den vergangenen drei Jahren seit ihrer Gründung transparenter geworden, freilich mit dem Ziel, ihre Aktionen leichter verständlich und klarer zu machen. Sie haben gelernt, den Schwerpunkt auf das Erklären und Bewußtmachen der Problematik zu legen. Dieses Konzept ist aufgegangen. Immer mehr Menschen wissen und hören von den SCP’s, und zwar viel mehr Menschen, als die Gruppe mit ihren Aktionen je erreichen würde.

teilen: