In «lesen [Literatur]» küsst die bildende Kunst den geschriebenen Text
Wer liest eigentlich noch Romane und Gedichte? Wer hat so viel Zeit, sie mit Muße zu verschwenden? Für die Ausstellung «lesen [Literatur]» hat Ingeborg Strobl zwölf Künstler_innen gefunden, die Textstellen in zwei- und dreidimensionale Bildlichkeit übersetzen. Für eine bildsame Kultur der Langsamkeit.
Bild von der Künstlerin Assunta Abdel Azim Mohamed
In der Kurzgeschichte «The Diamond as Big as the Ritz», die F. Scott Fitzgerald 1922 veröffentlichte, wird der junge John T. Unger von seinem Internatskollegen Percy Washington in das Haus von dessen Familie eingeladen, das, so behauptet Washington, und so stellt es sich letztendlich als wahr heraus, auf einem einzigen riesengroßen Diamanten steht – so groß wie das Hotel Ritz oder noch unglaublich viel größer. Auch wenn die Familie Washington mit all dem potenziellen Reichtum nichts anfangen kann, ist sie eher bereit, ihn zu verstecken und dafür zu morden, als auch nur ein Quäntchen davon herauszurücken.
Simon Häussle steht auf einer Leiter und malt in zartem Graubraun Skizzen von Gegenständen auf die weiße Wand. In der Mitte steht in großen Lettern ein Absatz aus «The Diamond». «Das hier könnte gefaltetes Metall sein», Häussle deutet auf einen Ausschnitt seiner Malerei. Rund um den Fitzgerald-Text malt er das Material, das für Reichtum gehalten wird und letzten Endes nur Sondermüll ist: «Auch der Reichtum verflüchtigt sich zum Schluss», sagt er, und auf meine Nachfrage, ob das nicht eine reichlich optimistische Kapitalismusanalyse sei, setzt er mit Nachdruck hinzu: «Er geht den Weg alles Irdischen.»
Häussle selbst ist den Weg der Provinz gegangen. Da habe es erstmal keine Vorstellung davon gegeben, sich eine formale Kunstausbildungsstätte zu suchen. Er sei Handwerker geworden: Malerei, Restaurationsmalerei, Schildermalerei; erst im zweiten Bildungsweg dann bildender Künstler. Für die Ausstellung «lesen [Literatur]», die bis März im Kunstraum Niederösterreich zu sehen ist, hat die Kuratorin Ingeborg Strobl ihn gebeten, ein Stück Belletristik zu interpretieren. Fitzgerald hat den Zuschlag bekommen.
Zusammengekratzte Euros, verkehrt fliegende Fliegen
«Lebst du vom Kunstmachen?», frage ich Bernhard Rappold, der beim Eingang einen sehr langen, sehr schmalen Metalltisch mit ausgewählten Stücken Textil behängt. Er geht einmal herum, schaut prüfend auf seine Komposition, hängt um. Bejaht meine Frage und zählt dann eine Reihe von Jobs auf, mit denen er die Euros zusammenkratzt. Die haben alle mit Kunst zu tun, mit Kunstunterricht, Auftragskunst, künstlerischen Projekten. Einfach an der eigenen Kunst arbeiten und davon leben? Rappolds freundliches Lachen gibt mir zu verstehen, dass diese Frage einigermaßen blöd ist. Nein, sagt er dann, das gehe noch nicht – aber es werde merklich besser: «Ein großer Teil der Kreativität geht bei uns allen in die Geldbeschaffung.» Rappold bedruckt Stoff, schweißt Metall, baut aus zu Schrott erklärtem Material Instrumente. Seine literarische Referenz ist eine Szene aus Jörg Fausers «Rohstoff» (1984), in der eine Frankfurter Bierbar namens «Schmales Handtuch» auf den Plan tritt. Ein schmales Handtuch, erklärt Rappold, ist im Bundesdeutschen ein schmalschultriger Mann oder ein schmalgebautes Haus, dessen seltsame Proportionen mancherorts zwischen zwei Baulücken in den Himmel ragen. Wie der Metalltisch, der nach Vorbild der 50er-Jahre zu Mustern geschweißt, unproportional in den Ausstellungsraum ragt. Vorbei an einer überdimensionierten Kugelschreiberzeichnung, in der Assunta Abdel Azim Mohamed nach einem Gedicht von Christine Lavant eine Unterwassergesellschaft ausharren lässt: «Um Hilfe rufen ist ausgenommen!» Ums Eck: eine Fliege, die auf dem Rücken fliegt, animiert von Petra Egg. Ein Kommentar auf Julio Cortázar, der sich, wie gewohnt en détail, in «Último round» dem Bottom-up-Fliegenflug widmet; durch eine enge Tür: ein sonnenumfluteter Blumenstrauß, Jakub Vrbas Arbeit über Thomas Bernhard, der die «widerwärtigen Gäste» im Hotel Waldhaus, die ihm «selbst Nietzsche verleiden», noch hasst, als sie, tödlich verunglückt, bereits aufgebahrt sind – auch bei Bernhard also alles beim Alten.
Die Langsamkeit des Lesens
Als Ingeborg Strobl «lesen [Literatur]» konzipiert hat, war sie vom Wunsch nach Verlangsamung getragen. Ein Buch in der Hand halten, blättern, lesen, seine fragile Stofflichkeit spüren, das ist das Gegenteil von dem eng getakteten Alltag, den sie um sich und bei sich wahrnimmt: «Ich habe meinen Wunsch also einfach ausgelagert.» Zwölf Künstler_innen hat Strobl versammelt, die bereit waren, Zusammenhänge zwischen Bildhaftem und Wortlastigem herauszukitzeln. «Aus allen Clans sind sie vertreten», sagt sie und spielt damit auf die vielen verschiedenen Kunstklüngel an, die sich teilweise «wahrscheinlich überhaupt nichts zu sagen haben.» Die Arbeiten dieser Clankünstler_innen sind im Kunstraum hingegen so angeordnet, als würden sie ganz organisch miteinander in Kommunikation treten. Da ist Clemens Denks Interpretation von Friedericke Mayröcker gleich neben der fotografischen Umsetzung eines Jandl-Poems von Dorothea Trappel. Audre Lorde (in Fotografien von Barbara Kapusta) blinzelt Gertrude Stein (formal ermalt von Ute Müller) zu.
Die meisten der Text-Bild/Skulptur-Kompositionen sind eigens für die Ausstellung entstanden. Annelies Oberdanner hatte ihre Skulpturen schon vorher geformt. Aus Bronze, Gips und Silikon sind «Elli», «Sigi», «M» und «Claudie» nach unscharfen, schlecht belichteten Fotografien entstanden, die Oberdanner von ihren Freundinnen hatte. Der Textausschnitt von Birgit Schwaner («Held. Lady. Mops», 2010), der hinter den Figuren an die Wand appliziert ist, liest sich für Oberdanner wie das Konzept ihrer Arbeit: «Als würde nicht bereits zu Lebzeiten eines Menschen sein Ruf aus Nachrichten, Anekdote, Manipulationen und Meinungen zusammengeflickt – Stückwerk (Patchwork) aus Details, zufällig erkannten oder erfundenen Facetten, die zu erwähnen andere für opportun halten. Momentan.»
«Leute finden, die lesen, war die größte Schwierigkeit», sagt Strobl. Die Ausstellung macht viel Lust darauf; nicht weil sie didaktisch den Wert des Romans bewirbt, sondern weil die Künstler_innen ihre Zugänge zum Text öffentlich machen. Das passiert, wenn man’s bedenkt, eigentlich viel zu selten. Die Romane und Gedichtbände kann man im Ausstellungsraum dann auch voll der Verlangsamung durchblättern; und vielleicht eine eigene Lieblingsstelle finden.
lesen [Literatur]
bis 14. 3. 2015
Kunstraum Niederösterreich, Herrengasse 13, 1010 Wien
www.kunstraum.net