«Tonkino»vorstadt

Als noch Gendarmen Dienst im Kino verrichten mussten

Im Weinviertel hat es zuhauf Lichtspiel-Häuser gegeben. Lisa Bolyos (Text & Fotos) begab sich auf Spurensuche und stieß dabei auf Hermine Holzer, die eine Art Vorläufer eines Multiplex-Kinos mitbetrieben hat.

Als auf den Schienen statt Draisinen noch Eisenbahnen nach Großkadolz fuhren, nahmen Hermine und Karl Holzer an der Bahnstation die Filmrollen entgegen, die sie aus Wien bestellt hatten: Man fuhr zu Constantin, Gloria, Styria, manchmal auch zu Warner Brothers «und wie sie alle geheißen haben», erzählt Hermine Holzer, und hat sich dort in den Verleihkalender eingetragen, um die besten Western und Liebesfilme ins Dorf zu holen. Dafür hat das Kino der Familie Holzer mit dem in Vitis kooperiert, über Sigmundsherberg wurden die Filmrollen ins Waldviertel weitergeschickt – oder umgekehrt von dort ins Pulkautal. In den 50er und 60er Jahren lief das Kinogeschäft vorzüglich, erst Fernseher und Motorisierung gruben ihm das Wasser ab. Das Fernsehen veranlasste das Publikum, abends zu Hause zu bleiben, die Motoren brachten die Menschen aus dem Dorf hinaus: Weil die Städte neue Filme immer zuerst bekamen, fuhr, wer motorisiert war, nach Laa, anstatt zu warten, bis das Kadolzer Tonkino an der Reihe war.

«Tonkino» steht heute noch in weinroten Buchstaben auf dem akkurat renovierten Haus. Ein Grundstück weiter hatte Großkadolz sein erstes Stummfilmkino, Hermine Holzers Schwager hat es 1928 eröffnet. Aber da war Hermine Holzer noch keine Holzer und lebte als Dreijährige bei ihren Eltern ein paar Kilometer weiter in Alberndorf.

Happy End.

Seit die Nebenbahnen im Weinviertel eine nach der anderen eingestellt wurden, kommt man von Wien mit Regionalzug und Bus nach Großkadolz, das dauert etwa eineinhalb Stunden. Will man eine Weinviertler Kinotour machen, sollte man es sich aber ein wenig umständlicher – und damit schöner – machen: Ein Zwischenstopp in Ladendorf (S-Bahn Richtung Mistelbach) macht sich nicht nur bezahlt, weil hier auf einer Hausfassade noch die «Kino»-Aufschrift zu sehen ist, sondern, noch pittoresker, weil dieses Haus im Kino-Weg steht, eine österreichische Seltenheit: Tirol hat einen, die Steiermark hat einen, Oberösterreich hat zwei.

Kinos, oder besser: Lichtspiele, gab es im Weinviertel zuhauf. Im lokalen Supermarkt in Asparn an der Zaya etwa ruft die Kassiererin gleich einen Kunden herbei, der noch weiß, welches Haus damals das Kino war: schräg gegenüber, hellgelb gestrichen – jetzt, wo der Herr darauf hinweist, wird die Kinoarchitektur erkennbar. Da oben, wo heute eine Dachterrasse den Aufbau ergänzt, standen früher die Projektoren. Das ist «alles g’storbn», meint der Mann, «seit dem Fernseher». Das nächste Kino sei im 7 Kilometer entfernten Mistelbach, «aber da geht auch nix mehr». Asparn allerdings hat seit einigen Jahren mit dem «Filmhof Weinviertel» wieder ein eigenes Kulturzentrum.

Frau Holzer selbst besuchte als junge Frau auch nicht das Kino ihres späteren Schwagers, sondern ging die zwei Kilometer von Alberndorf nach Haugsdorf, wo Julius Müllner im Jahr 1914 das «Pariser Ideal Kino» (später «Lichtspiele Haugsdorf») gegründet hatte. Und wie hat sie den Holzer Karl kennengelernt, wenn sie zur Konkurrenz ging? Das war so: «Ich habe eine Filiale unserer Bäckerei in Hadres geführt, und da hab ich ihn einmal vorbeifahren gesehen und hab ich mich gefragt: Wer ist das?

Beim Obritzer Kirtag sah ich ihn wieder bei Tanz, weitere Nachfrage ergab: Das ist Karl Holzer.» Die nächste Fahrt zum Zahnarzt nützte Hermine, um am Tonkino vorbeizuschlendern. «Da ist er rausgekommen, wir haben über das alte Kino gesprochen» – und, um die Geschichte mit einem Happy End abzukürzen, 1956 wurde geheiratet.

Freikarten für die Gendarmerie.

Das «Tonkino» war zu Ostern 1953 mit «Erzherzog Johanns große Liebe» eröffnet worden. «Man hat gesagt, wir haben direkt ein Imperium», lacht Frau Holzer, und die Kombination aus Gasthof, Landwirtschaft, Kegelbahn, Stummfilm- und Tonkino auf zwei Seiten der Hauptstraße am Anfang des Dorfes lässt tatsächlich an einen Vorläufer des Multiplex denken. Frau Holzer stieg als Kassiererin in den Kinobetrieb ein; wo heute die Garderobe ihres Wohnhauses ist, verkaufte sie die Karten. Auch die Bar ist noch erhalten, an der eine Schwägerin das Kinobuffet betrieb. In den Kinosaal selbst darf ich nicht schauen (er sei nicht aufgeräumt), aber auf Fotos sieht man die Bestuhlung für über 300 Besucher_innen, im hinteren Bereich gab es gar Logen, und die Bühne vor der Leinwand wurde ab und zu auch für Werbe- und Verkaufsveranstaltungen verwendet: etwa von Waschmaschinen, aber «die waren nicht gut besucht. Da haben mir die Leute oft leid getan, die das vorgeführt haben.» Über eine Außentür ist der Vorführraum oberhalb des Kinosaals erreichbar. Dort stehen immer noch die zwei Projektoren und der Plattenspieler, zwei Lichtschalter sind beschriftet mit «Kabinenlicht» und «Panikbeleuchtung». Ein kleiner Tisch erlaubte, gerissene Filme zu kleben, und in Schachteln finden sich noch Glasdias mit Kinowerbung.

Bis in die 70er Jahre gab es im Tonkino am Mittwoch, Samstag und Sonntag jeweils zwei bis drei Vorführungen. «Bei den Romy-Filmen zum Beispiel haben wir noch eine Vorstellung eingeschoben.» Im Kino saßen nicht nur Besucher_innen aus Kadolz und den umgebenden Dörfern, sondern in der hintersten Reihe immer auch zwei Gendarmen. Dienstlich, versteht sich. Die hatten den Jugendschutz zu überwachen, «und so haben’s den Film umsonst gesehen». Aber das «große Kinosterben» traf auch in Großkadolz ein. Das Geschäft ging immer schlechter, zum Schluss kam hauptsächlich «die Jugend», und die wusste sich nicht zu benehmen, befindet Frau Holzer. Zwar finden wir Aufzeichnungen, nach denen an einem Sonntag im Juli 1977 noch 120 Leute das Kino besuchten, aber am 28. August wurde der letzte Film gezeigt: «Die Stunde der Kaltblütigen», ein französischer Western – «ab 14 J.», wie handschriftlich am Plakat von Czerny-Film vermerkt ist. Je nach Sitzplatzqualität kosteten die Karten zuletzt von 15 Schilling in der ersten Reihe bis 22 Schilling in der Loge.

Weinviertler Krimi.

Es ist Frühling, aber das Klima mimt schon den Sommer. Die Kellertriften, wie die Kellergassen hier genannt werden, sind so etwas wie die Wahrzeichen des Pulkautals. Jene von Hadres (dort, wo Hermine Holzer ihren Zukünftigen zum ersten Mal erblickt hatte) ist mit 1,6 Kilometern und 400 Kellern gar die längste Trift des ganzen Weinviertels. Aber nicht nur Wein und Kinogeschichte sind einen Ausflug an die Pulkau wert, sondern auch die Grenzwanderwege. In eineinhalb Stunden ist man zu Fuß in Jaroslavice, der «Mühlenweg» führt in zwei Stunden von der Eselmühle in Kadolz zur Wassermühle in Slup, während man ins 25 Kilometer entfernte Znojmo (mit intaktem Kinobetrieb) besser mit dem Fahrrad fährt.

Der Spaziergang durch die Großkadolzer Kellertrift führt an der gemeindeeigenen Vinothek vorbei. Hier gibt’s ein Glas Traubensaft und eine Einführung in die wichtigsten Attraktionen des Dorfes vom zertifizierten Polt-Führer selbst. Die Fernsehkrimis rund um den Gendarmerie-Inspektor Simon Polt sind in aller Munde, es gibt einen eigenen Polt-Wanderweg und Polt-Führungen entlang der Schauplätze, bei denen die Weinverkostung nicht zu kurz kommt. Der Polt-Autor Alfred Komarek hat selbst einen Weinkeller in Obritz (wir erinnern uns an den Kirtag!), nur der Hauptdarsteller Erwin Steinhauer ist kein Pulkautaler, aber doch immerhin ein Ernstbrunner, und auch am Ernstbrunner Hauptplatz gab es ab 1914 ein Kino. Hermine Holzer selbst hat in vier der Polt-Filme als Statistin mitgewirkt.

Frau Holzer ist 93. Interviews will sie in Zukunft eher keine mehr geben, obwohl ihre Lebensgeschichte es durchaus wert wäre: «Erlebt hab ich genug, muss ich ehrlich sagen.» Sie hat in Wien gearbeitet, in Mödling und zwei Jahre gar in London, wo sie ihr Englisch bei vielen Kinobesuchen perfektioniert hat. Ins Kino geht sie allerdings schon ein Weilchen nicht mehr. Ob sie sich an ihren letzten Leinwandstreifen erinnern kann? Natürlich kann sie das: Im Apollokino in der Gumpendorfer Straße hat sie «Der Weiße Hai» gesehen.

Literaturtipp:

Karl und Martin Zellhofer: Verschwundenes Weinviertel

Edition Winkler-Hermaden 2016, 132 Seiten, 19,90 Euro