Tote Tomatevorstadt

Unmittelbar vor seinem 40. Bestandsjahr musste das Musiklokal Blue Tomato in der Wurmsergasse, 15., den Löffel abgeben. Für die Stammgäste und für Liebhaberinnen und Liebhaber gepflegter (Jazz-)Musik ist das eine Katastrophe – und keine Alternative in Sicht.

TEXT: ANDREAS FELLINGER
FOTO: MARIO LANG

Wer jemals die Stufen ins Souterrain des Lokals in der Wurmsergasse 21 hinunterstieg, betrat einen eigenen Kosmos. Eine Unterwelt des Neo­biedermeier und der sozialen Kälte da oben draußen. Feinster Jazz an der Bar bot die perfekte Begleitmusik zu Gemütlichkeit, gutem Essen und Trinken, zu inspirierenden Gesprächen oder einfach zum Ausspannen und In-die-Luft-Schauen. Gerti Man und Günter Werner hatten, wie kaum jemand sonst, offenbar jederzeit das richtige Händchen für ihre Klientel.
Das Blue Tomato (1982–2021) war nicht nur das liebenswerteste Musiklokal Wiens. Es war nicht nur Schauplatz einiger der lässigsten Konzerte überhaupt. Es wurde nicht nur von den sympathischsten Wirtsleuten betrieben. Es bot nicht nur die charmanteste Musik, das freundlichste Ambiente und die feinsten Drinks. Es verfügte nicht nur über den wahrscheinlich bezauberndsten Gastgarten Mitteleuropas. Das Blue Tomato war das alles zusammen!

Wohnzimmer.

Das erste Konzert in der Tomate, erinnerte sich Günter Werner im Interview mit der Musikzeitschrift freiStil, spielte Jim Pepper am 1. April 1987. «Unsere Hauptarbeit ist aber zu einem weit überwiegenden Teil eine gastronomische und darauf ausgerichtet, als Beisl in einem schwierigen Bezirk wirtschaftlich überleben zu können, ohne von Förderungen abhängig zu sein. Neben der musikalischen Ausrichtung haben wir uns in erster Linie immer als verlängertes Wohnzimmer für die Nachbarn gesehen, die eher trotz als wegen der Musik gekommen sind.»
Größen des avancierten Jazz gaben sich hier die Klinke in die Hand. Der amerikanische Saxofonist David Murray hat einige Tage im Haus gewohnt, die schwedische Band Position Alpha kam häufig mit großer Entourage, Weltmeister wie Joe McPhee, Ken Vandermark, Peter Brötzmann und Mats Gustafsson traten mit Vorliebe hier statt anderswo in Wien auf. Zudem führte das Naheverhältnis zum Nickelsdorfer Festival Konfrontationen immer wieder Mitte Juli zu grandiosen Auftritten im Anschluss ans burgenländische Event. Und local heroes wie Max Nagl, Paul Skrepek, Vincenz Wizlsperger, Susanna Gartmayer, Martin Zrost, Viola Falb, Oskar Aichinger oder Hannes Löschel, um jetzt nur ein paar wenige zu nennen, sorgten hier häufig für blendende Stimmung und Sternstunden improvisierter Musik.

Ermüdung.

Was dann Ende des Jahres passierte, fügte sich perfekt in die Charakteristik des vermaledeiten 2021er-Jahrgangs. Als eine Miteigentümerin des Lokals beschloss, aufgrund eines Wohnungswechsels ihre Anteile am Blue Tomato zu verkaufen, gab Gerti Man schlussendlich ihre Zustimmung – immerhin traten bei ihr und Günter Werner nach mehr als 39 Jahren Abendgastronomie gewisse Ermüdungserscheinungen zutage. Ein sogenannter, mit dem Lokal sympathisierender Immobilienentwickler wurde angefragt und kaufte die Tomate samt angrenzender Wohnungen. Das traurige Ende des Blue Tomato war besiegelt. Andernorts fällt diese, im Neoliberalismus wie die Schwammerln aus dem Boden schießende Berufsgruppe durch Versiegelung und Zerstörung gewachsener Strukturen auf. Im vorliegenden Fall folgt auf die jahrelang verabreichte Williamsbirne wenigstens nicht sofort die Abrissbirne. Ein Desaster ist der Tod der Tomate allemal.

Spirit.

Die Wirtsleute, die fast vier Jahrzehnte lang so viele Leute mit ihrem Gefühl für Musik, Kulinarik und Bierchen, mit Spirituosen und vor allem mit viel Spirit glücklich, satt, beschwipst, kurz: rundum zufrieden machten, können nun dem Ableben ihres Lebenswerks nur zusehen. Falls sie die Nerven dafür aufbringen. Sie können aber auch genau so gut verzweifeln oder das Weite suchen. Und wir armen Schweinderln hängen in der Luft und fragen uns, wohin wir uns in Zukunft vertrauensvoll wenden sollen. 

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