Totentanz und Grabraubvorstadt

Um ihre Ahnen zu ehren, feiern Clans auf Madagaskar gemeinsam mit ihren Toten alle paar Jahre ein Fest. Markus Schauta (Text) und Lisa Köppl (Fotos) konnten einem beiwohnen.

Das Grab ist rasch aufgebrochen. Mit Hammer und Meißel klopft der Mann den Beton weg, der die Steinplatte zur Grabkammer hält. Dann hebt er die Platte zur Seite und verschwindet in der modrigen Dunkelheit der Gruft.
Wir befinden uns ein paar Autostunden südöstlich der Hauptstadt Antananarivo. Ende September ist es im Hochland von Madagaskar kühl, Regen selten. Vor einem halben Jahr ist Andry Rabemiakatra einer seiner Ahnen im Traum erschienen. «Mir ist kalt und ich bin hungrig», habe ihm der Verstorbene mitgeteilt. Der 58-jährige Familienvater wusste sofort, was zu tun ist: Eine Famadihana muss organisiert werden; eine sogenannte «Leichenwende» – ein Fest für die Toten.
Im Inselstaat Madagaskar ist dieser Brauch weit verbreitet. Alle paar Jahre trifft sich der Familienclan, um mit einem Fest die Ahnen zu ehren. Doch der Umgang mit den Toten ist eine heikle Sache, die Vorbereitungen dauern lange und müssen gründlich durchgeführt werden. Rabemiakatra hat daher einen Ombiasy befragt, einen Vermittler zwischen den Toten und den Lebenden. Der Ombiasy hat einen Termin für das Fest bestimmt, festgelegt, wann die Gruft geöffnet wird und dass der Friedhof unbedingt vor Einbruch der Nacht wieder verlassen werden muss. Am Vortag wurden ein Zebu und Schweine geschlachtet. Das Fleisch und Reis mit Weizen und Öl kochen jetzt in riesigen Kesseln am offenen Feuer.

Tote fressen Familienbudget.

Die Mitglieder des Familienclans sind mit Bussen, Pick-ups und Taxis aus ganz Madagaskar angereist. Etwa 300 Personen haben sich an der Dorfstraße versammelt und warten auf das große Essen. Unter einem Zeltpavillon spielt eine Band. Ein paar Männer wiegen sich im Rhythmus der Ziehharmonikas und Trommel, Bierflaschen kreisen. Gegen Mittag strömen die Menschen in das große Festzelt, wo Fleisch und Reis angerichtet werden.
Eine Famadihana ist eine sehr kostspielige Angelegenheit. Die Familie trägt die Kosten für die Leichentücher aus Seide, für die Organisation des Festes und ist verpflichtet, alle Mitglieder des Clans zu verköstigen. Obwohl jedes Mitglied der Familie finanziell dazu beiträgt, muss lange gespart werden. «Die Famadihana hat uns zehn Millionen Ariary gekostet», sagt Rabemiakatra. Das sind umgerechnet etwa 2.400 Euro, was sechs Jahreseinkommen auf Madagaskar entspricht.
Nach dem Essen überreicht jeder Gast dem Gastgeber ein Geldgeschenk. Rabemiakatra nimmt die Scheine in Empfang, seine Tochter Fidaisa trägt Namen der Spender und die gespendete Summe in ein Buch ein. Damit wird sichergestellt, dass wenn Rabemiakatra und seine Familie Gäste auf einer Famadihana sind, sie die exakt selbe Summe an den Gastgeber spenden werden.

Zorn der Ahnen.

Die Teilnehmer_innen der Famadihana sind überzeugt, dass die enorme Belastung des Familienbudgets dennoch eine gute Investition ist. Falihery Rakotoarisoa ist aus dem etwa 200 Kilometer entfernten Ambatolampy angereist. Obwohl er und seine Familie schon lange nicht mehr hier wohnen, hat der Ort, wo seine Vorfahren lebten und begraben sind, immer noch eine besondere Bedeutung für ihn.
«Das gemeinsame Fest trägt zur Verbundenheit des Clans bei», sagt der 44-jährige Hutträger. Und wenn er vom Clan spricht, schließt das auch die Verstorbenen mit ein. Es gebe da ein Sprichwort, sagt Rakotoarisoa: «Während des Lebens teilst du dasselbe Haus, nach dem Tod dieselbe Gruft.» Doch genauso, wie die Verstorbenen sich um das Wohlergehen der Nachfahren kümmern, können sie auch in Zorn geraten. Dann drohen schlechte Ernten, Unfruchtbarkeit und andere Unglücke. Um das zu verhindern, müssen alle paar Jahre Famadihanas organisiert werden. Wie Rakotoarisoa bekennen sich knapp die Hälfte der Madegass_innen zum Christentum, was nicht zwingend bedeutet, dass sie deshalb den Ahnenkult aussetzen. Stattdessen hat sich vielerorts das Christentum mit der traditionellen Religion vermischt und Priester geben ihren Segen bei den Famadihanas. Vor allem der katholischen Kirche ist die Vorstellung von Fürsprechern bei Gott nicht fremd. Der christliche Heiligenkult wird ähnlich gedacht wie der madegassische Ahnenkult: In beiden Vorstellungswelten setzen sich die Verstorbenen bei Gott für die Belange der Lebenden ein.

Tanz mit den Toten.

Nachdem alle gegessen haben, zieht die Prozession los. Vorneweg das Familienoberhaupt Rabemiakatra in schwarzer Lederjacke, daneben die restlichen Familienmitglieder in grün-weißen Festtagsgewändern. Tanzend bewegen sie sich aus dem Dorf, hinaus in die Reisfelder, Richtung Friedhof.
Die Toten liegen auf einer kleinen Anhöhe begraben. Mehrere quadratische Mausoleen aus Stein und Zement sind über das Areal verstreut. Doch nicht alle Toten werden in den Grüften beigesetzt. Ausgeschlossen sind jene, die sozial verstoßen sind, wie unfruchtbare Frauen und als Hexen Gebrandmarkte, oder jene, die zu Lebzeiten das Geld zum Unterhalt des Grabes nicht aufbringen konnten. Diese Toten werden zwischen den Mausoleen in Erdgräbern beigesetzt. Verstoßen im Leben, bleiben sie es auch nach dem Tod.
Rabemiakatra klettert mit anderen auf das Dach des Familiengrabes. Auch ein Vertreter der Bezirksverwaltung in weißem Hemd und Anzughose ist dabei. Es folgen Ansprachen, und am Ende spielt die Band die Nationalhymne. Dass das alles ganz offiziell abläuft, hat seinen Grund. Immer wieder kommt es vor, dass Mausoleen aufgebrochen werden. Dabei geht es nicht um Schmuck oder andere Wertgegenstände – diese werden nie mit ins Grab gegeben. Gestohlen werden die Knochen der Toten. Zu welchem Zweck ist nicht bekannt. Verhaftete Grabräuber sagten aus, dass sie um die 3.500 Euro pro Kilogramm Knochen erhielten. Im Hafen von Tamatave wurde sogar ein Container voll Knochen sichergestellt. Über die Hintermänner ist nichts bekannt. Stattdessen gibt es Gerüchte, wonach die Knochen für traditionelle Medizin genutzt werden. Chinesische Händler_innen stehen im Verdacht, die Knochen nach China zu exportieren. Bewiesen ist nichts. Der Friedhof beim Dorf Soavinandriana blieb bisher von Grabräubern verschont.
In der unterirdischen Krypta wickeln Männer die Leichen in Bastmatten und übergeben sie den vor dem Grab wartenden Angehörigen. Die Familienmitglieder, vor allem Frauen, versammeln sich um die Toten, berühren die in fleckiges Tuch gewickelten Leichen mit den Händen und der Stirn, küssen sie und flüstern ihnen Dinge zu, in der Hoffnung, die Toten mögen ihre Wünsche erhören. Dann werden die Leichen in neue, blütenweiße Tücher gehüllt. Währenddessen spielt die Band, die Menschen trinken Rum und lachen. «Wir sind nicht gekommen, um unsere Toten zu betrauern, wir tanzen mit ihnen», sagt ein Mann, dessen Hut schief am Kopf sitzt. Frauen und Männer heben die neu eingewickelten Bündel auf ihre Schultern und bewegen sich tanzend vor und zurück.
Dann kommt der Regen. Unter dem bleigrauen Himmel löst sich die Gesellschaft rasch auf. Die Menschen eilen zurück ins Dorf, knattern auf Mopeds davon oder laufen neben ihren mit Tischen und leeren Flaschen beladenen Zebu-Karren her. Zurück bleiben die Toten in ihren Grüften.

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