Train-Bombing-TourArtistin

FLANERIE abseits der Tourismusrouten (9): Welt der SprayerInnen

Zu einer Stadtführung der anderen Art lud der Augustin am Fronleichnamstag ein. Eine Gruppe Interessierter begleitete Graffiti-Forscher Norbert Siegl auf seiner Entdeckungsreise durch die Welt der Styles und Pieces zwischen Kunst und Protest, Geduldetem und Verbotenem. Die Bereitschaft vorausgesetzt, manche „Betreten verboten“-Tafel zu ignorIeren: Solche Exkursionen lassen sich auch in Eigenregie unternehmen.Meidling, Schedifkaplatz: Zwei Frauen beugen sich über das Geländer, zeigen hinunter zu den Bahngleisen, betrachten etwas. Daneben ein Mann in schwarzem T-Shirt, umringt von Leuten, die aufmerksam seinen Ausführungen lauschen. Kameras werden ausgepackt, Objektive auf die Mauern neben den Schienen gerichtet. Eine Touristengruppe auf Abwegen? Einige Passanten schauen leicht irritiert. Hier gibt es ja nichts Interessantes.

Doch: große, bunte -und vor allem „historisch wertvolle“ Graffiti! Im Bereich der Schnellbahnstation Meidling sind einige der ältesten Mauerbilder Wiens erhalten geblieben, erklärt Norbert Siegl, der Mann im schwarzen T-Shirt. Er ist Psychologe, Leiter des Instituts für Graffitiforschung, und heute „Reiseleiter, bei unserer „“Train-Bombing-Tour“, deren Titel sich auf den Szeneausdruck für massenhaftes Besprayen von Zügen und Bahnhöfen bezieht.

Die in wenigen Farben gehaltenen, flächigen „“Styles“ (graphisch gestaltete Schriftzüge, meist die Decknamen der Sprayer) sind typisch für die frühen 1990er Jahre.

Die ersten Graffiti gab es in Wien schon in den 1980ern. Damals war die Schrift noch einfärbig und mit einer Linie gezogen. Dann folgten als Umrisse („“Outlines“) gesprayte Buchstaben; später füllte man die Konturen mit einer anderen Farbe aus. Die jüngsten, in zahlreichen Farbnuancen ausgeführten „“Pieces“ (Werke), häufig mit dreidimensionalen Effekten, sind schon richtige Kunstwerke.

Bevor wir Graffiti-Touristen solche Wandgemälde zu sehen bekommen, gibt es eine Lektion in Grundlagenforschung, bei einer Runde um den Häuserblock. Norbert Siegl deutet auf einen Altkleidercontainer, auf den jemand mit einem Marker „“Neger raus“ gekritzelt hat. „“Neger“ ist durchgestrichen und „“Nazis“ drüber geschrieben „Crossing“ nennt man das. Die gleiche Parole, mit und ohne Übermalungen, begegnet uns noch einige Male. Eine rechtsextreme Gruppe? Nein, meint unser „Reiseleiter, alles deutet auf einen Einzeltäter hin, die Schrift ist immer die gleiche.

Fast hätten wir das nächste Graffito übersehen: mit dem Finger auf eine schon länger nicht mehr geputzte Fensterscheibe gemalte Buchstaben, so genannte „Staub-Graffiti“. Die fallen auch unter den Überbegriff der „“Street-Art“, also Straßenkunst. Ebenso wie die Sticker, auf gut Wienerisch Pickerl, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen angebracht sind.

Wie beim Schwammerlsuchen

Bald geht es uns wie beim Schwammerlsuchen: Wenn man einmal weiß, worauf man schauen muss, findet man ständig was. Zum Beispiel Kratz-Graffiti. Oder ein Schablonen-Graffito – im Unterschied zu den meist schwer entzifferbaren freihändig gesprayten Styles sind die Buchstaben hier schön ordentlich nebeneinander aufgereiht. Das Entziffern ist also kein Problem, dafür aber die Botschaft. Unser Interpretationsversuch entspricht ziemlich genau dem Wortlaut: In roten Lettern steht hier „“keine Ahnung“.

Nachdem wir Hauswände, Öffi-Haltestellen, Telefonzellen, Zigaretten- und sonstige Automaten nach den verschiedensten Graffiti-Arten untersucht haben, landen wir wieder an der Bahnstrecke. Die ist das reinste Graffiti-Freilichtmuseum. Den Bahndamm entlang wandernd betrachten wir die großformatigen „“Pieces“. Da steht „“Hades“, das darunter könnte „“Babes“ heißen – aber was ist der letzte Buchstabe des silbrig schimmernden Schriftzugs dort drüben? Wieder mal keine Ahnung. Jedenfalls erfahren wir, dass in Silber gehaltene Graffiti dem „“Silver Style“ zuzuordnen sind.

Nächste Sehenswürdigkeit ist eine „“Wall of Fame“, eine Mauer, an der sich die Berühmtheiten der Wiener Graffiti-Szene verewigt haben. Wobei von „“ewig“ angesichts der wenigen von der Gemeinde Wien zum Bemalen freigegebenen Wände nicht wirklich die Rede sein kann. Eines der Prunkstücke, eine Mauer auf dem Areal des Meidlinger Kabelwerks, derzeit eine riesige Baustelle, ist den Abbruchmaschinen zum Opfer gefallen. Ein kleineres Stück Mauer, ebenfalls auf dem weitläufigen Kabelwerk-Gelände, steht noch und ist sogar öffentlich zugänglich.

Die Sonne brennt gnadenlos auf uns herunter, während wir stehen und staunen. Und Fragen stellen: Warum sind die Buchstaben so dick, wie aufgeblasen? Das ist der „“Bubble Style“. Und dieses ineinander verschlungene Buchstabengewirr? „“Wild Style““. Da ist die Farbe runter geronnen, schau, ein richtiger Tropfen. Solche „“Tränen“ passieren vor allem noch nicht so erfahrenen „MalerInnen, wie sich die SprayerInnen in Wien nennen. Norbert Siegl bekommt beim Erklären Unterstützung von einer Teilnehmerin unserer Tour, die selbst manchmal Mauern mittels Spraydose verschönert, bisher „nur legal“, wie sie versichert.

Während der Mittagspause in einem angenehm schattigen Gastgarten gewährt uns die Expertin in unserer Gruppe Einblicke in ihr „“Black Book“, das Skizzenbuch der „“Maler“. So ein Buch enthält neben Entwürfen für Wandgemälde auch Autogramme berühmter Sprayer, die zum Teil sogar für Auftragsarbeiten bezahlt werden.

Wir nehmen die Schnellbahn nach Atzgersdorf-Mauer. In der Nähe der Station gibt es verlassene Fabrikshallen, denen ein paar junge Leute stellenweise einen neuen Anstrich verpasst haben. Aber wo? Wir sehen nur einen grünen Dschungel. Der war bei seiner letzten Graffiti-Recherche zu Ostern noch nicht so dicht, meint Norbert Siegl.

Ungeachtet der Zeckengefahr kämpfen wir uns durchs Gemüse – und werden mit einem grandiosen Anblick belohnt: In einer völlig desolaten Halle scheint die Sonne durch die mit farbenfrohen Graffiti verzierte Fensterreihe unter dem Dach. Während ein paar Mutige eine Leiter erklimmen, um sich die Hinterglasmalerei aus der Nähe anzusehen, durchstreifen die anderen das Fabriksgelände zu ebener Erde. Schließlich schart Norbert Siegl die versprengte Gruppe wieder um sich, um die „“Train-Bombing-Tour“ bei einem kühlen Bierchen ausklingen zu lassen.

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