Traktat zum Lattentreffervorstadt

Wo, wenn nicht beim Augustin Cup, herrschen neue Fußballregeln?

augustin_cup.jpgZwei Regelverstöße beim ersten Fußballturnier um den Augustin Cup Mitte September in Wien: Erstens gewann nicht das siegreiche Team diesen vom Augustin gestifteten Pokal (die Mannschaft des Fußballmagazins Ballesterer), sondern die bestplatzierte Mannschaft aus dem Obdachlosenbereich (Tageszentrum Josefstädter Straße); zweitens wurde erstmals in der Geschichte des Fußballs jene Mannschaft prämiert, die die meisten Stangen- und Lattentreffer erzielte nämlich das neunerHAUS-Team. Bei der Siegesfeier am Abend des Turniertags konnte, wer wollte, folgendem Vortrag folgen, der jenen seltsamen Schuss ehrt, der weder daneben geht noch ins Tor.

Neben dem Gurkerl, dem Austricksen des gegnerischen Spielers durch das Hindurchschieben des Balles zwischen dessen Beinen, zählt der Stangenschuss bzw. der Schuss auf die Querlatte zu den Gewürzen eines Fußballspiels unentbehrlich für alle Romantiker des Ballesterns. Tore schießen ist Handwerk. Ins Lattenkreuz treffen ist die Poesie des Fußballs. Die Manager, die weltweit und in Österreich den Fußballsport zu einem kommerziellen Unternehmen mit markttauglichen Regeln machen, verstehen nichts von Poesie. Sie verstehen nichts von den seelischen Turbulenzen, die unter den Akteuren und im Publikum ausgelöst werden, wenn der Pfosten zittert durch einen Ball, der nicht ins Tor und nicht daneben gegangen ist. Sie wissen nicht, dass dieses Zittern dem Beben der im erotischen Spiel entflammten Körper gleicht. Ein Lattenschuss ist immer mehrdeutiger, also zivilisierter als ein Torschuss; durch Lattenschüsse können die offiziellen Verlierer einer Partie zu moralischen Siegern werden. Lattenschüsse können Kräfte freisetzen, als ob die Mannschaft eben in den Zaubertrank von Miraculix gefallen wäre. Lattenschüsse können eine Mannschaft aber auch in die Hölle der Resignation führen. Natürlich ist ein Match ohne einen einzigen Lattenschuss ein Match. Aber was für ein Match. Es ist vergleichbar mit einem Abfahrtslauf auf der Kitzbühler Streif ohne Mausefalle.

Ein Stangen- oder Lattentreffer kann ein Spiel umdrehen, die Wende im Spielgeschehen einleiten. Für die bisher unterlegene Mannschaft, die verzweifelt der ersten wirklichen Torchance nachgerannt war und fast schon resigniert hat, kann ein Lattenschuss aufs gegnerische Tor ein Muntermacher sein. Aber auch ein Lattenschuss des Gegners aufs eigene Tor kann denselben psychologischen Effekt haben. Bestes Beispiel dafür ist das legendäre Rückspiel zwischen Rapid Wien und Dynamo Dresden am 20. März 1985. In der ersten Viertelfinal-Partie des EC der Pokalsieger waren die Grün-Weißen in der DDR mit 0:3 untergegangen. Im Hanappi-Stadion kam es zu einem Spiel, das in die Geschichte einging. Als der Dresdner Spieler Ralf Minge den Ball aus kurzer Distanz nur an die Latte köpfelte, brach Hans Krankl mit seiner legendären Schmähung Fia eich Piefke weama de Querloddn ned um aan Meta hecha montiern! offensichtlich das mentale Rückrat der ostdeutschen Mannschaft. Das Match ging überhaupt als Kampf der großen Worte in die Geschichte des Fußballs ein. Trainer Otto Baric hatte in seiner unnachahmlichen Art die Parole ausgegeben: Finf sin meglich! Tatsächlich haben ja die Rapidler das Match mit 5:0 gewonnen. Und der Rapidtorhüter Herbert Feurer soll zum Pechvogel Minge nach dem Spiel gesagt haben: Scheiß da nix. In fuchzehn Joa wird da Honnegga Schdaungan und Quealoddn schdreichn, mid Rosdschutzfoam. In fuchzehn Joa kumst aussa ausn Stasi-Knast, weu do wiads ka Stasi mea, ka Maua mea und aa ka Dynamo mea gem!

Immer wieder ist versucht worden, den Lattenschuss von seinem Nimbus zu befreien, ihn zu einer Normalität im Match-Verlauf zu erklären. Man hat behauptet, die Latte zu treffen sei nur eine Frage des Trainings. Im Internet wird ein Video verbreitet, in dem Ronaldinho beim Training zu sehen ist. Er zielt viermal hintereinander aus großer Distanz auf die Querlatte, trifft sie jedes Mal, und zwar immer so, dass der zurückspringende Ball genau beim Schützen landet. Das Video ist natürlich ein Fake. Mit dieser Manipulation es ist zu hoffen, das Ronaldinho diesem Missbrauch seiner Popularität nicht zugestimmt hat soll suggeriert werden: Es ist ja keine Kunst, die Querlatte zu treffen, wenn man es oft genug übt. Wer so denkt, frevelt gegenüber dem Zufall, dem Vater der Stangen- und Lattenschüsse.

Und nächstes Mal die Schmähparade? Doch bitte nicht den Hodentreffer!


Wer von Stangenschüssen redet, outet sich als Österreicherin oder Österreicher, denn in Deutschland würde man Pfostenschüsse sagen. Nur die Latte ist hüben wie drüben die Latte, und das Lattenkreuz, das Lothar Matthäus mit einem Volleyschuss in seinem ersten Spiel nach seiner Übersiedlung nach Amerika traf, ist auch in Österreich ein Lattenkreuz. Das Debüt des deutschen Rekord-Internationalen Lothar Matthäus bei seinem neuen Verein Metro Stars in New York im März 2000 wurde zu einer ziemlich faden Nullnummer. Der Lattenschuss des deutschen Stars wurde so zum Höhepunkt des Spiels aber nur aus der Sicht derer, die das Match live oder im TV mitverfolgten. Das wirklich sinnliche Erlebnis des Lattenschusses ist nur im Stadion erlebbar: Das Publikum sieht den Ball schon im Netz, was auf das kaum erforschte Phänomen hinweist, dass der Blick immer schneller ist als der Ball, dass der Blick quasi den Ball überholt, er hängt im Moment des knallenden Aufpralls des Balls an der Latte schon im Netz, kehrt dann aber in unglaublicher Geschwindigkeit an den Ort des Aufpralls zurück, wo er gerade noch den Start des Zurückprallens wahrnimmt. Ein noch rätselhafterer Aspekt dieses Phänomens: Der eingebildete Ball, der schneller als der reale Ball ist, landet immer im Netz, obwohl er logischerweise genauso oft neben das Tor ins Tor-Out fliegen müsste. Diese einseitige optische Täuschung verstärkt den dramatischen Effekt des Lattenkreuztreffers: Die Fans der angreifenden Mannschaft sind, vom Schicksal geprellt, zu Tode deprimiert, während den Fans der verteidigenden Mannschaft ein Stein vom kollektiven Herzen fällt, der in einem kollektiven Aufatmen verdampft.

Nach einem Schuss ins Latteneck, also einem, der fast ins Kreuzeck gegangen wäre, ist das Geraune der Publikumsmasse ein gänzlich spezielles. Der Schock derer, die den gegnerischen Ball schon im eigenen Netz wähnten, und der Schock der anderen, die um ein Kreuzecktor betrogen wurden, synthetisiert sich zum gemeinsamen Kurven-Sound. Darum werden auch jene hier Anwesenden, die die Latten- und Stangenschüsse des Augustin Cups nicht miterlebt haben, den Kult nicht begreifen, den die Veranstalter im Zusammenhang mit Torstange und Querlatte betreiben. Andrerseits werden die Fußballfans, die in einem Volltreffer im Lattenkreuz nichts Geringeres als den Orgasmus der Begegnung erkennen, jetzt staunend feststellen, dass es hoch an der Zeit ist, das traditionelle Regelwerk des Fußballs um eine neue Regel zu ergänzen: Bei Punktegleichheit entscheidet die Zahl der Stangen- und Lattenschüsse. Und die wirklichen Freunde des Fußballs werden weitergehen und von einer Zeit nach FIFA und UEFA träumen, in der es keinen Punkt für den Sieg nach Toren, sondern einen Punkt für einen Stanglpass, einen Punkt für eine sachlich unnötige Torhüterparade (die Schmähparade), einen Punkt für einen Treffer auf den Schiedsrichter, drei Punkte für ein Gurkerl, drei Punkte für einen Treffer auf Stange oder Latte und vier Punkte für einen Schuss aufs Lattenkreuz gibt. Mit der Prämierung des Teams vom neunerHAUS, das am öftesten auf die Latte traf, fangen wir hier und heute an, Normen in Frage zu stellen, die wir nicht verstehen, und sie durch Regeln zu ersetzen, die wir für sinnvoll halten.

 

Augustin Cup 2008 Der Ball tanzt am Rand 

Der Augustin Cup wurde ins Leben gerufen, weil sich gezeigt hatte, dass bei Fußballturnieren im Sozialbereich vor allem Mannschaften mit jüngeren Spielern antreten und in der Regel auch gewinnen. Angebote für ältere Sportler gab es dagegen bislang kaum. Für an den Rand Gedrängte haben Turniere und Sportangebote einen hohen Stellenwert, sind doch Siege im Leben selten und Niederlagen folgenschwerer als etwa beim Fußball. Aber eine gewisse Gettoisierung ist nicht von der Hand zu weisen, wenn Spieler von sozialen Einrichtungen gegen Spieler von sozialen Einrichtungen kicken. Noch dazu, meist unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Drei Ideen stehen daher beim Augustin Cup im Vordergrund. Erstens: ein sportlich sinnvoller Bewerb für Kicker jenseits der vierzig. Zweitens: ein Turnier unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Schichten. Drittens: Auch Zuschauer sind willkommen. Ausgetragen wurde der Augustin Cup daher im Herzen der Vorstadt am Trainingsgelände des traditionsreichen Wiener Sportklub.

Beim Augustin Cup gibt es aber noch zwei weitere Innovationen: Der Turniersieg ist für alle Teams möglich, doch der Gewinn des Augustin Cup ist dem bestplatzierten Team der Wohnungslosenszene vorbehalten als Zeichen gegen die in der Gesellschaft verankerte The winner takes it all-Kultur. Ebenfalls neu ist, dass es eine Wertung für Stangen- und Lattentreffer gibt (siehe Artikel oben).

Die Mannschaften

Beim Ersten Augustin Cup am 13. September kickten zwölf Mannschaften, sechs aus sozialen Einrichtungen und sechs mit sozial Eingerichteten: Neben den Traditionsmannschaften der Wohnungslosenszene, Tageszentrum Josefstädter Straße, Caritas Gruft, Junge Caritas und Haus Gänsbachergasse, war natürlich der Schwarz Weiß Augustin am Start und erstmals in der Geschichte des Wiener Wohnungslosenfußballs auch eine kickende Delegation vom neunerHAUS. Zu diesem Sextett wurden noch Teams aus dem Kreis der Freunde und Förderer des Augustin eingeladen: die Redakteure des Fußballmagazins Ballesterer, die Hobbyfußballer des FC Schamott, die Fans des Sportklub von der Friedhofstribüne, Torpedojesuiten (auch bekannt als Peace Kicking Mission), die Küchencrew von Haubenkoch Rosenbauch und das Nationalteam der Literaten.

Die Ergebnisse

Mit dem Tageszentrum Josefstädter Straße hat der Augustin Cup einen äußerst würdigen ersten Titelträger bei seiner Premiere. Die JOSI ist seit vielen Jahren neben der Gruft und dem Augustin eine Fixgröße im Wohnungslosenfußball. Der Sieg beim Augustin Cup 2008 ist nicht nur das Ergebnis gepflegter Fußballkunst, sondern auch der Lohn für regelmäßiges Training. Mit dem dritten Platz im Turnier war die JOSI das beste Team aus der Wohnungslosenszene. Platz zwei ging an die Torpedojesuiten, den Turniersieg sicherte sich der Ballesterer nach einem Elferkrimi im Finale. Auf den weiteren Plätzen: 4. Literaten, 5. neunerHAUS, 6. Rosenbauch, 7. JUCA, 8. FC Schamott, 9. Gänsbachergasse,10. SW Augustin. Bester Torschütze: Georg Oppitz (Ballesterer), bester Spieler: Christian Lerch (Torpedojesuiten), bester Tormann: Thomas Grussl (SW Augustin). Preis für die meisten Lattentreffer: neunerHAUS.