Trauerrituale für HäuserArtistin

Mit dem Projekt «Immo Grief» gibt es am Kulturfestival Wienwoche heuer Raum und Zeit für Trauer um verlorene Immobilien. Ausgangspunkt für die kollektive Trauer ist eine Ausstellung. Diskutiert und gebaut wird auch – gemeinsam.

TEXT: MAGDALENA MAYER
FOTO: CAROLINA FRANK

«Mit Wohnraum geht auch Freiraum verloren», setzt Lisa Bolyos an, die Hintergründe des Projekts Immo Grief zu erklären, das sie gemeinsam mit Tomash Schoiswohl im Rahmen der diesjährigen ­Wienwoche – das Festival findet von 16. bis 25. September unter dem Motto «Working Class Ecologies» an verschiedenen ­Orten Wiens statt – umsetzt. Bolyos hat für das Gespräch vor dem Kulturzentrum 4lthangrund bei der Alten Mensa der ehemaligen Wirtschaftsuniversität Platz genommen – in einer anderen Rolle als sonst. Als Augustin-Redakteurin (zurzeit in Bildungskarenz) ist es meist sie, die Fragen stellt. Bei ihrer Arbeit hatte sie schon oft mit Orten zu tun, die nicht reguliert sind oder nicht genug Profit abwarfen und deswegen neu verwertet werden sollten. Auch aus aktivistischen Gründen beschäftigt sie sich bereits lange mit Immobilien und Stadtplanung, so wie auch Künstler und Kunstvermittler Tomash Schoiswohl. Für ihn ist das Areal am Althangrund, das die Zentrale ihrer Immobilientrauerarbeit sein wird, vertrautes Terrain. Er hat Konzeptuelle Kunst und Critical Studies studiert, und als die Akademie der Bildenden Künste hier vor einigen Jahren temporär einzog, arbeitete er schon als Universitätsassistent und Lektor. Dass sie nun mit ihrem Projekt an diesen Ort kommen, hat mit persönlichen Immobilien-Trauerfällen zu tun.

Rituale der Trauer fehlen.

Über zwanzig Jahre lang erforschte Schoiswohl in seiner künstlerisch-politischen Arbeit den Matzleinsdorfer Platz und Möglichkeiten der Stadtbebauung. Das Feuerwerkshaus, das er dort bespielt hat und das zuletzt auch von Obdachlosen genutzt worden war, wurde im Zug der Stadterneuerung unlängst abgerissen. Schoiswohl nahm ­Ziegelsteine mit, schaute Bilder seiner Zeit im Haus durch, sentimentale ­Erinnerungen ­kamen hoch. Als er mit Bolyos darüber sprach, fanden sie heraus, dass auch sie um Immobilien in Wien trauert. Etwa die einst ausgebrannten Sofiensäle, die danach nicht gänzlich renoviert, sondern teils zum Hotel und Fitnesscenter wurden. Die als multifunktionaler Gemeinwohl-Ort genutzte Nordbahnhalle, die ebenfalls brannte und entfernt wurde. Das abgerissene Kaffeehaus Urania in der Radetzky­straße. «Das waren Häuser, die uns etwas bedeutet haben», meint Bolyos.
Ihr Projekt soll nun alle Verluste von Häusern, Orten und Stätten umfassen können: «Viele Kämpfe um eine Immo­bilie werden verloren, doch es gibt ­keine Momente und Rituale der ­Trauer um diese. Wir finden aber, dass das wichtig ist.» Auch der Projekt­standort ist eigentlich auf einen Trauerfall zurückzuführen. Es hätte auf der Brachfläche bei St. Marx stattfinden sollen, ein umkämpfter und in Veränderung befindlicher Ort, an den eine große Eventhalle kommen soll. Sie haben die Erlaubnis nicht bekommen – ein «lost place» für die kreative Nutzung. Letztendlich fanden sie das Kulturzentrum 4lthangrund, wo man sich mit Sozial- und Wohnraum für alle beschäftigt und sie gerne aufnahm. Während Schoiswohl von Gentrifizierung und Verlusten erzählt, hält er eine Birne in der Hand und beißt in die Frucht. Sie ­stehe symbolisch für die ­Abrissbirne, die im Kapitalismus oft kein Halten kenne, erklärt er. Menschen verlieren Raum, können sich Wohnungen und Bezirke nicht mehr leisten. Auch das Klima leidet, wenn Bauten nicht revitalisiert, sondern weggerissen und neue Materialien abgeladen werden. Orte ändern sich gravierend, Platz verschwindet, neue Stadtteile werden aus dem Boden gestampft.

Neoliberale Raumpolitiken.

Stadtentwicklung geschieht rasant. Demgegenüber möchten Bolyos und Schoiswohl innehalten und nachdenken, welcher kritische Umgang mit neoliberalen Raum- und Zeitpolitiken möglich ist. Und mit offenen Fragen ausloten, was eine kollektive Kultur des Trauerns um ein Zuhause sein kann: Welche Funk­tion hat Trauer? Was bedeutet ein Konzept wie Immo Grief für Stadtplanung, Geschichtsschreibung, Aktivismus? Welche Trauerrituale kann es geben? Ein:e Jede:r ist eingeladen, an diesem Prozess teilzunehmen. «Die Entindividualisierung von Trauer ist uns ein Anliegen. So werden Veränderungsprozesse sichtbar und das Gefühl von Trauer wird legitimiert», betont Bolyos.

Kunst aus Trümmern.

Das Programm soll ermöglichen, nicht isoliert zu trauern, sondern über Strukturen hinter Trauerfällen zu diskutieren. Es wird auch miteinander gebaut: Mit Skulpturen, die aus bereit­gestelltem oder eigenem Material entstehen, führt ein Trauermarsch durch den Althangrund bis zur Baustelle beim Franz-Josefs-Bahnhof; mit Kindern entstehen ­Immobilienmonster. Am Platz vor dem Kulturzentrum zeigt Schoiswohl eine Filmarbeit über historische Abrisse von Sozialbauten in Glasgow, den USA und Linz, auch ­Georg Lemberghs Dokumentarfilm Das versunkene Dorf wird abgespielt. ­Dieser Film über das Dorf Graun am Reschenpass, das in den 1950ern ­wegen eines Stauseeprojekts unter Wasser gesetzt wurde, ­erzählt von der Trauer der Menschen, die ­gehen mussten, und veranschaulicht einen wesentlichen ­Gedanken ­hinter Immo Grief: Oft werden nicht nur Gebäude, sondern auch soziale Netzwerke, Lebensgeschichten und Ideen zerstört.
Symbolisch für die Zerstörung eines ganzen Zusammenhangs sei für Bolyos etwa die Räumung des Protest-Camps gegen die geplante Stadtstraße. Das pyramidenförmige Gebäude, das am besetzten Bauabschnitt bei der Hausfeldstraße entstanden und dann niedergerissen worden ist, greift sie in einer künstlerischen Arbeit auf. Mit Druckerin ­Kirsten Borchert produziert sie eine Raufasertapete mit Holz aus der Lobau in der Silhouette der Pyramide. Eine zweite Arbeit von Bolyos setzt sich mit Biedermeierhäusern in der Äußeren Mariahilfer Straße auseinander, die geplanten Luxuswohnungen weichen mussten, wobei intime Einblicke in Wohnräume freigelegt wurden. Zwei der vielen Arbeiten, die sich der Idee von Immo Grief mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln annähern.
Weitere zwölf Künst­ler:in­­nen­ bringen in die Ausstellung Beiträge ein. Darunter Bildhauerin Cäcilia Brown, die ein Foto vom Abriss des Kaffee­hauses Urania zeigt und Skulpturen aus Materialien von Abrisshäusern. Als vor ein paar Jahren eine No­velle der Wiener Bauordnung angekündigt wurde, die den Abriss von Gründerzeithäusern erschweren sollte, kam es zu einer Abrisswelle, die Browns Neugierde weckte, sich die Bauten vor der Veränderung anzusehen. Sie nahm aus ­ihnen Dachbalken mit – Dachböden seien in Wien oft Gemeinschaftsraum, Dachausbauten verwandeln sie aber in teure Orte, erklärt sie – und verkeilte sie zu Skulpturen mit Wachs, Beton und Gips, bei denen die Materialien nicht ganz zusammenpassen. «Ich wollte schlechte Verbindungen aus politischem Willen, Kapital und Investoren mit bildhauer­ischen Arbeiten umsetzen. Greifbar machen, was man fühlt.» Trauer darf emotional sein, so Brown. Was ­Trauer um Immobilen alles umfassen kann, wird bei Immo Grief intensiv erarbeitet – nicht als statischer Überblick, sondern als Ausgangspunkt für eine mögliche Trauerpraxis, vom Zulassen von Gefühlen bis zu Empowerment.

Immo Grief
Ausstellungseröffnung: 17. Sept., 19 Uhr
19. + 20. Sept., 11–16 Uhr: Vorbereitung Trauermarsch
21. Sept., 18 Uhr: Kollektiver Trauermarsch
22. Sept., 20 Uhr: Filmscreening «Das versunkene Dorf»
23. Sept., 16–19 Uhr: Immo Monster Kinderworkshop
24. Sept., 20 Uhr: Finissage
Kulturzentrum 4lthangrund, Alte Mensa, 9., Augasse 2–6
www.wienwoche.org/de/1149/immo_grief

Wienwoche – Working Class Ecologies
16. – 25. Sept.,
Kunstfestival an verschiedenen Orten in Wien
Eintritt frei
www.wienwoche.org