Trugbild aus Berlintun & lassen

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Viele halten an einem Missverständnis fest, das weit verbreitet ist: Sie glauben, dass das Problem dort entsteht, wo es sichtbar wird. Wenn also Frankreich wirtschaftliche Probleme hat, müssen die Franzosen und Französinnen selbst schuld sein. Diese Diagnose ähnelt einem Arzt, der nur die Symptome kuriert, statt die Ursachen zu behandeln.Deutschland mache das hingegen alles richtig, heißt es. Ja, das deutsche ökonomische Modell hat Stärken: Unternehmen von Weltrang, niedrige Arbeitslosigkeit, gute Bonität. Zugleich aber betreibt die deutsche Regierung ein zu Lasten der Nachbarn gehendes Wirtschaftsmodell: niedrige Löhne, um den Export anzutreiben. Bei genauerem Hinsehen hilft das auch Deutschland nicht. Außenhandelsüberschüsse seien «ein Symptom einer maroden Wirtschaft», sagt Philippe Legrain von der Schools of Economics. «Stagnierende Löhne treiben die Überschüsse der Unternehmen in die Höhe, während reduzierte Ausgaben und ein abgewürgter Dienstleistungssektor eine verringerte Investitionstätigkeit im Inland zur Folge haben.»

Die deutsche Elite hat Ende der 90er Jahre mit Kostensenkungen begonnen. Obwohl die Produktivität seitdem um 17,8 % gestiegen ist, liegen die Reallöhne heute niedriger als 1999. So werden Arbeitnehmer_innen entmutigt, ihre Fertigkeiten auszuweiten, Unternehmen werden entmutigt, in hochwertigere Produktion zu investieren. Der Druck auf die Löhne schwächt die Binnennachfrage und subventioniert den Export, von dem das deutsche Wirtschaftswachstum abhängt. Auf Dauer lohnt es sich aber nicht, Exportüberschüsse anzuhäufen, denn die ökonomische Logik ist stärker: Wenn Deutschland darauf beharrt, stets mehr zu exportieren, als es importiert, dann können die anderen Länder die deutschen Waren nur kaufen, indem sie Kredite aufnehmen – bei Deutschland. Es ist eine reine Frage der Zeit, bis einige Importländer überschuldet sind und sich das deutsche Auslandsvermögen in nichts auflöst. Diese Politik ist auch kein «Anker der Stabililtät» und auch kein «Wachstumsmotor für die Eurozone», wie es so oft heißt. Eine schwache Binnennachfrage im Land bremst Wachstum anderswo. Viele werden sie ihre Kredite im Osten nicht mehr wiedersehen.

Übrigens ist es kein Zufall, dass die deutsche Regierung mit dem Lohndumping erst begonnen hat, nachdem der Euro eingeführt wurde. Vorher hätte es nämlich nicht funktioniert. Die D-Mark wäre einfach im Kurs gestiegen, wenn Deutschland exorbitante Exportüberschüsse aufgehäuft hätte, so dass die Lohnvorteile wieder verschwunden wären. Doch im Euro ist Deutschland geschützt und kann ungestört eine Lohnpolitik betreiben, die seinen Nachbarn schadet.

Mindestens ein Drittel des Anstiegs der Arbeitslosigkeit in Europa geht auf das Konto der aktuellen Austeritätspolitik. Es ist eine fatale Strategie, eine Verbesserung der ökonomischen Situation zu erwarten, wenn Löhne gekürzt werden. Die in Europa erzeugten Güter und Dienstleistungen werden zum größten Teil in Europa selbst abgesetzt und nicht irgendwo anders in der Welt. 90 Prozent aller Waren laufen im Binnenmarkt. Und weil Löhne eben die wichtigste Einkommensquelle der meisten Menschen in Europa sind, führen Sozial- und Lohnkürzungen zu einem Rückgang der Nachfrage im Binnenmarkt und damit zu einem Schrumpfen der Wirtschaft sowie einen weiteren Rückgang von Investitionen und Beschäftigung. Europa wird ärmer, nicht reicher, wenn alle Länder ihre Löhne senken. Und wenn alle dem Trugbild aus Berlin folgen.

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