Tschechien in Mariahilf – Eine Institution wird 30: das Nachtasylvorstadt

Ende der 1980er-Jahre wurde in der Stumpergasse mit dem Nachtasyl die inoffizielle tschechische Botschaft eröffnet.  Im Oktober feiert das Kultlokal seinen 30. Geburtstag.

Chris Haderer (Text & Foto) hat mit Gründer Jiří Chmel die Feierlichkeiten besprochen.

Sechster Bezirk, Stumpergasse, oberes Ende. Rechts haben die Veganer_innen beim Maran ein Schlupfloch gefunden, daneben speist man proteinorientiert beim Steindl oder im Gasthaus Zum Wohl. Links, und zwar in jeder Hinsicht, liegt das Nachtasyl. Eher unscheinbar von außen, mit einem handgeschriebenen Schild, auf dem der Name des Inhabers steht: Jiří Chmel. Auf der anderen Seite der blauen Tür führen Betonstufen nach unten: dann ein großer Raum mit Holztischen und einem DJ-Pult und einer kleinen Bühne an der Stirnseite. Dunkel. Sollte überraschend ein Atomkrieg ausbrechen, würde ich mich hier sicher fühlen: ein Luftschutzbunker mit eigener Ausschank, ein bisschen wie im Film «Underground» von Regisseur Emir Kusturica, in dem eine Mann- und Frauschaft jahrzehntelang im Bunker vergessen wird. Alles sieht so aus, als hätte es sich seit 30 Jahren nicht mehr verändert – und abgesehen von den Getränkepreisen stimmt das wahrscheinlich auch. 1987 gegründet war es nicht nur ein Lokal, sondern auch die inoffizielle tschechische Botschaft in Wien. «Die Leute, die das Nachtasyl am Anfang mitgetragen haben, stammten aus den Kreisen der Charta ’77», erzählt Jiří. «Sie waren aus der damaligen Tschechoslowakei ausgewiesen und lebten in Wien. Da waren auch viele Prominente dabei, die ich alle kannte. Dadurch war das Lokal als Treffpunkt prädestiniert. Die Zeit bis 1989 war schwer davon geprägt. Das ist so weit gegangen, dass bei Václav Havel gleich nach der Hofburg das Nachtasyl angesagt war.» Und auch der damalige Außenminister Karel Schwarzenberg wurde im Nachtasyl gesichtet.

Das Tagasyl kam hinzu.

Im Jahr 1993 kam zum Nachtasyl ein Tagasyl hinzu, ebenerdig, kleiner und ab 17 Uhr geöffnet. «Dort machen wir vor allem Ausstellungen. Konzerte finden unten im Keller statt.» Viele der Mariahilfer Bobos_innen, die den «Luftschutzkeller» jetzt als Geheimtipp für sich entdecken, haben keine Ahnung, auf welchem Boden sie ihr Bier süffeln. 1987, als Wien noch eine böse und hässliche Stadt war, die aussah, als wäre der Krieg erst ein paar Monate her, eröffnete das Nachtasyl in einer durch und durch bürgerlichen Gegend.

Das Nachtasyl war aber nicht nur eines der Lokale, die sich aufgrund ihrer Klientel als «links» deklarierten, sondern eines, das tatsächlich politische Wurzeln hat. Als Jiří Chmel das Lokal gründete, stand die tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung «Charta ’77» Pate, und die Band «Plastic People of the Universe» spielte eine tragende Rolle. Als Mitglied des nord-böhmischen Untergrunds in den 1970er-Jahren war Jiří Chmel in Haft, bevor er aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurde und nach Österreich kam. «Ich durfte nicht reisen und nicht studieren. Nachdem ich 18 Monate im Gefängnis war, hatte ich keine Arbeit. Die Stasi wollte alle unangenehmen Personen loswerden und machte im Rahmen der Aktion «Asanace» so lange Druck, bis sie es geschafft hatte, uns in den Westen zu bringen.» Der Willkommensgruß kam damals vom Sonnenkönig himself: Bundeskanzler Bruno Kreisky sprach eine Einladung an die im eigenen Land ungeliebten Tschechen aus, nach Österreich zu kommen. 1982 nahm Jiří die Einladung an und übersiedelte aus der österreichischen Botschaft in Prag, in der er um politisches Asyl angesucht hatte, nach Wien. Mittlerweile pendelt Jiří wöchentlich zwischen dem Nachtasyl und seinem Haus in Tschechien.

Konzertbesucher_innen wurden verhört.

Und dann waren da die Plastic People of the Universe. Musikalisch vielem voraus, was den typischen Český-Rock ausmacht, der oft aus stimmlosem Gegröle zu harten Beats besteht und aus angeblich hochwertigen Texten, gehörten sie zu den Systemkritikern schlechthin. Eine Polizeiaktion der tschechoslowakischen Miliz gegen die Bandmitglieder führte letztlich zur Charta ’77. Bei einem Konzert im Februar 1976 wurden Mitglieder der Band, die genau genommen eher eine «Gruppe» war, inhaftiert und Konzertbesucher_innen vom tschechoslowakischen Regime verhört. Václav Havel, damals noch Dramatiker im Hauptberuf, betrachtete die Repressalien gegen die Band und ihre Fans als «Angriff des totalitären Systems auf das Leben selbst, auf die menschliche Freiheit und Integrität». Havel war dann nach mehreren Jahren politischer Haft nicht nur Stammgast im Nachtasyl, sondern von 1989 bis 1992 auch der neue und letzte Staatspräsident der Tschechoslowakei. Nach der «Samtenen Revolution», die das Ende des kommunistischen Regimes darstellte, war er von 1993 bis 2003 auch der erste Staatspräsident der Tschechischen Republik.

Aktiv war die tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung Charta ’77 in den Jahren 1977 bis 1992, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, die im krassen Widerspruch zu der Schlussakte von Helsinki standen.

In Tschechien sind die Plastic People zum Kult geworden, durch ihre Botschaft und durch die Musik – sie stehen für eine Überzeugung. Und – natürlich – waren sie auch im Nachtasyl zu Gast. Und auch Iva Bittová, eine gewaltige Frau, die ihre Zeit und ihr künstlerisches Umfeld immer noch prägt – wie viele Musiker_innen, die im Nachtasyl zu Gast waren. In den Anfangstagen des Nachtasyls gab sich die tschechische Underground-Szene praktisch die Klinke in die Hand: «Alles was Rang und Namen hatte, war da», erinnert sich Jiří. Politik und Musik waren in den letzten Jahrzehnten nirgendwo so fest verzahnt wie am Ende der Tschechoslowakei und am Beginn der Republik Tschechien. «In der ersten Zeit wurde im Nachtasyl viel über Politik gesprochen», erinnert sich Jiří. Gravierende Veränderungen standen vor der Tür: «Plötzlich war Gorbatschow in Russland. Es gab auf einmal viele Hoffnungen – und dann passierte es wirklich …» Mauern fielen, Grenzen wurden geöffnet, ein Systemkritiker wurde erster Präsident.

«Heute wird nicht mehr so viel politisiert», sagt Jiří. «Obwohl wir sehr unglücklich darüber sind, was derzeit in Tschechien passiert. Heute ist Tschechien ein durchschnittlicher Staat mit einem Establishment und vielen anderen Dingen, von denen ich nicht geglaubt habe, dass sie sich wiederholen würden.» Die Politik steht im Nachtasyl nicht mehr im Vordergrund, was auch an einer verjüngten Klientel liegt: «Am Anfang waren es wirklich Dissidenten und Migranten, die das Stammpublikum ausmachten. Nach 1989 war es die tschechische Untergrund-Szene. Aber das Publikum verändert sich. Es kommen viele junge Leute. Die Stammgäste von früher kommen zwar auch, aber eher selten.» In der Geschichte des Lokals gab es «auch viele Tiefen», gibt Jiří zu. «Einmal haben wir nicht aufgepasst, und plötzlich waren Drogen da.» Zu den Höhen gehört, dass «ich zeigen kann, was mir an der tschechischen Kultur gefällt».

Während das Nachtasyl heuer seinen 30. Geburtstag feiert, steht Jiří kurz vor der Pension. Ewig will er nicht Lokalbesitzer bleiben, denn abseits vom Spaß ist es kein leichter Job. Zwei Jahre will er mindestens noch im Amt bleiben, danach wird ein anderer in seinen Fußstapfen schreiten. Aber keine Angst: Die guten Kräfte sind sich sicher, dass bis dahin noch viel tschechisches Budweiser über die Donau Richtung Schwarzes Meer fließen wird … schließlich heißt Jiří Chmel übersetzt Jakob Hopfen.

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