Robert Ospald erinnert sich an die Hochspannungsleitungs-Flucht
Der eingefleischteste Antikommunist, den ich kenne, sitzt neben mir am Cafeteria-Tisch – und scheint in den meisten Dingen mit mir übereinzustimmen, hält
Robert Sommer fest. Victor Halb machte Tischfotos.
Die Rede ist vom Exiltschechen Robert Ospald, derzeit wohnhaft in Wien-Meidling, der es zum Titelhelden einer der «Kronen Zeitungs»-Ausgaben des Jahres 1985 brachte. Die «Krone»-Redaktion liebt(e) jedweden Stoff zur Verlängerung des Kalten Krieges. Eben war dem damals 35-Jährigen mit einem Kumpel eine spektakuläre Flucht über den Eisernen Vorhang gelungen. Es gab keine noch spektakulärere, weder vorher noch nachher. Es war die Flucht mit einer ausgetüftelten «Seilbahn» über die 380.000-Volt-Stromleitung nach Österreich.
«Kannst du dir als österreichischer Indigener vorstellen, dass dein Staat dich möglicherweise nicht einmal nach Ungarn lässt, wenn du den Drang verspürst, einmal im Leben Auslandsluft zu schnuppern? Weißt du, dass wir Tschechen, um am Plattensee eine Woche Urlaub zu machen, erstens den Besitz von Devisen nachweisen und zweitens um eine Genehmigung für die Ausreise ansuchen mussten?» Das sind nicht ganz angenehme Fragen für unsereinen, die wir «Freiheit» postulierten und uns wenig um unsere Nachbar_innen in der ČSSR scherten, für die der verlockende «Süden» nicht ein Strand in Kreta, sondern ein Teich in Südmähren bedeutete (zugegeben mit gemütlichem Campingplatz).
Die Eishockey-WM als Schlüsselerlebnis.
Ospalds Traumland war aber ohnehin nicht Balaton und Umgebung, sondern Kanada. Diese Affinität machte sich schon beim 14-Jährigen bemerkbar. «In diesem Alter beherrschte mich eine fixe Idee: mit einem gestohlenen Jeep quer durch Sibirien zu fahren, in Alaska anzukommen und Nationalparkwärter in einer der großen Wildnisse zu werden. Ich hätte da eine Kanone am Gürtel, träumte ich, und wenn es verdächtig raschelte, schösse ich in das Gebüsch und ein toter russischer Bär fiele mir vor die Füße.» In späteren Jahren bekräftigt ein Schlüsselerlebnis Robert Ospalds Kanadasucht. In Prag findet die Eishockey-Weltmeisterschaft statt. Die Gewerkschaft hat ein Kontingent von Tickets für das Eröffnungsspiel ČSSR vs. Kanada im Betrieb verteilt. Aber was muss Robert Ospald von seiner Gewerkschafter_innenkurve aus sehen? Eine ekelerregende Massenpose des Anti-Internationalismus. Bekümmert hält er in seinem Buch
(s. u.) fest: Er sei «fassungslos gewesen über das, was sich hier in der Eishalle abspielt». Immer, wenn die Kanadier sich den Puck erkämpfen, bricht in den Rängen ein Pfeifkonzert los. Robert wird zum Fremdschämer.
Und er identifiziert sich auch mit einer zweiten gesellschaftlichen Minderheit. Er wird zum Tramp. Das waren die Hippies des realen Sozialismus. «Unser gemeinsames Schicksal: Wir waren immer die Ersten, die von der Polizei kontrolliert wurden. Unsere gemeinsamen Kennzeichen: Wir trugen die Uniformen der Militärs aller Länder am Leib. Das war für uns ein Zeichen der Unbeugsamkeit». Er wisse, lächelt Robert, dass in Ländern wie Deutschland und Österreich Militärwäsche ganz anders kodiert sei.
Längst ist es nicht mehr bloß das Fehlen der Reisefreiheit, das Ospald den «Genossen», wie er die Mitglieder des Staats- und Partei-Apparats nennt, zum Vorwurf macht. Er versteht sich immer mehr als unversöhnlicher Gegner des «kommunistischen Systems», das die Selbstinitiativen der Menschen hasse wie der Teufel das Weihwasser. «Für jeden Schas braucht man mindestens zwei Genehmigungen, und bald wird es so sein wie im Bruderland, wo man eine Genehmigung braucht, wenn man Verwandte in der Nachbarstadt besuchen will», grollt der Neowiener.
Ospald vermisst auch die Freiheit des Wortes: Wenn es sie gäbe, bräuchte man die Kritik an den erstarrten nachstalinistischen Verhältnissen direkt an die richtigen Adressen richten und müsste nicht zur kompensatorischen List des antisozialistischen Witzes greifen. Seinem Buch ist die Flucht einer ganzen Gesellschaft in den entlastenden Witz (auch die Parteimitglieder entlasteten sich auf diese Weise) nicht abträglich. Denn eine ganze Menge dieser Witze ist im Buch zitiert, zum Beispiel: «Aus welchem Material bauen die Russen Hotels? Die Antwort lautet: zwei Drittel Baumaterial, ein Drittel Abhörtechnik.» Robert Ospald kommt meinem Einwand zuvor: Was ist das Drittel sowjetischer Abhörtechnik gegen das materielose Abhören der gesamten Weltbevölkerung durch US-Nachrichtendienste? 32 Jahre Lebensmittelpunkt Wien genügten, um ihm klarzumachen, dass der freie Westen nichts anderes als ein Klischee ist, stellt der Starkstromflüsterer fest.
Die Flucht als technische Disziplin.
Viel Zeit hat Ospald bei der Erfindung von Fluchttechniken, die von vornherein unrealisierbar waren, verloren. Im Buch schildert er zum Beispiel die leeren Kilometer in Sachen Flucht-U-Boot. «Ich wollte ein einfaches U-Boot bauen. Zwei Ölfässer, zusammengeschraubt, mit einem Gewicht, das verhindert, dass sie sich drehen, Frischluftzufuhr, eine Handpumpe, um ab- und aufzutauchen.» Es fehle bei diesem Vorhaben nur eine Kleinigkeit: «Ein Fluss, der in den Westen fließt und im Sinn hat, dort auch zu bleiben.» Scheiß Geografie: Die meisten tschechischen Flüsse führen in «Bruderländer».
Anders als die Flüsse verhalten sich in dieser Angelegenheit Hochspannungsleitungen. Ospalds Buch enthält eine minutiöse Schilderung der Vorbereitungsarbeiten, die immer wieder durch tiefe Zweifel über die Machbarkeit der Überwindung des Eisernen Vorhanges mithilfe dieser 380-KV-Trassen abgebrochen wurden. Das Original-Seilwagerl, das Ospald für sich und seinen jüngeren Freund (im Buch Frankie genannt) konstruierte, ist im Berliner Checkpoint-Charly-Museum zu besichtigen. Auch auf Ospalds Homepage wird das Gefährt, mit dem die zwei Männer 1985 die Grenze überwanden, vorgestellt. Wenn er heute, was immer seltener vorkommt, über seine Fluchtgeschichte referieren muss, zeigt er eine Kopie her.
«Die Flucht», das Hauptkapitel, liest sich wie ein nach umgehender Verfilmung schreiender Krimi. Dazu muss man wissen, dass der tschechisch-österreichische Anteil am Eisernen Vorhang der tödlichste war. Rund 1000 Personen kamen in diesem Grenzbereich ums Leben, darunter hunderte tschechische Grenzsoldaten, denen die eigenen Minen zum Verhängnis wurden, und mehr als 200 Soldaten, die die psychische Belastung nicht aushielten und Suizid verübten. Eine Information, die Ospald nicht zur Verfügung stand. Sie relativiert das Bild eines vermeintlich homogenen, zur Liquidation bereiten und Befehlen blind gehorchenden Grenzschutzapparates.
Die Grenzschutzbeamten waren oft nahe dran, die Waldverstecke der «Seilbahnbauer» zu entdecken. Die Grenzer sind nicht gewohnt, nach oben zu schauen, dort oben vermuten sie nur Wildenten und hoch fliegende Schwalben. Wie von Gott gesandt (zu dem Ospald während der Fahrt am Seil permanent betet) stellt sich ein stürmischer Gewitterregen ein. Auch wenn ein Soldat sein Fernrohr nach oben richtet: Die Tropfen verunmöglichen jede Sicht.
«Er versteht nichts!»
Robert Ospald beendet seinen ausführlichen Bericht mit einer seltsamen Beobachtung. Frankie, sein Fluchtgefährte, will nach erfolgreicher Überwindung der Todesgrenze die Wunderkonstruktion des Seilwagerls an Ort und Stelle liegen lassen, weil er sich das Tragen ersparen will. «Er versteht nichts!», ärgert sich Ospald. Ich pflichte ihm bei: In einer Zeit der Unsicherheit im neuen Land sei der Hype dieses Fluchtgeräts und die Erinnerung an dieses Abenteuer das einzige Kapital, das den «Helden» zur Verfügung steht. Ospald scheint sich über diesen Kommentar schwer zu ärgern. Keineswegs sei es ihm in erster Linie um eine Musealisierung oder Vermarktung des Fluchtkrimis oder um einen Versuch der Selbstheroisierung gegangen. Das Fluchtgerät, seine erfolgreiche Entwicklung, sei ihm zu sehr ans Herz gewachsen, als dass er es irgendwo hätte entsorgen können.
Als einen der Erfolge seines Buches nennt er den Einsatz des neuen tschechischen Botschafters in Wien. Die Fluchtdokumentation – zunächst auf Tschechisch, dann auch in deutscher Übersetzung verlegt – durfte in den Botschaftsräumlichkeiten präsentiert werden. Ospalds bisher größte Enttäuschung in der «freien Welt» war die Haltung der Fremdenpolizei im Lager Traiskirchen, die jedes Risiko eines Zerwürfnisses mit der damaligen tschechoslowakischen Führung zu vermeiden trachtete. Der Polizist zwang den tschechischen Flüchtling, ein Vernehmungsprotokoll zu unterschreiben, das von den tatsächlichen Aussagen abwich. Robert Ospald hätte ihn liebend gern verflucht: »Kommunist!» Doch er konnte seine Emotionen unter Kontrolle halten. Wir können also nicht wissen, wie heftig sich der Beamte über diese vorher nie gehörte Zuschreibung gewundert hätte.
Robert Ospald: 380.000 Volt. Hoffnung auf Freiheit
Eigenverlag 2013, 298 Seiten, 23,90 Euro
Das Buch ist nur über die Website des Autors erhältlich: http://ospald.at