Es bringt nicht wirklich viel, sich zwischen die Polizei und eine mutmaßliche kleine Diebin zu stellen. Aber was könnte man tun?Das weinende Mädchen am Schottentor war schon von der Straßenbahn aus zu sehen. Ein Polizist davor. Erst dachte ich, die Kleine hat ihre Mutter verloren. Dicke Tränen im Gesicht, lautes Heulen, Herumgehüpfe. Dann sah ich, dass daneben eine Frau stand, die ebenfalls weinte und in der Art hin und her blickte, wie wenn sich jemand in die Ecke gedrängt fühlt. Da war aber keine Ecke. Ich kaufte dem Mädchen eine Cola, damit sie vor Aufregung nicht zusammenklappt. Cola wirkt bei Kindern immer. «Gehören Sie dazu?», fragte mich der Polizist. «Stehen Sie zurück.» Ich zeigte meinen Presseausweis vor. «Die Frau schickte das Mädchen in mein Geschäft hinein, um etwas zu stehlen», sagte der Boutiquebesitzer, «sie gab ihr den Befehl zu stehlen, ganz klassisch.» Der Polizist kratzte sich am Kopf unter dem Schirm seiner Polizeimütze. Die zirka Acht- oder Neunjährige hatte nichts in der Hand oder in den Taschen. Zum Klauen war sie wohl gar nicht mehr gekommen, falls das denn ihre Absicht war. «Warum schenkte er ihr denn keine Klamotten?», dachte ich, völlig verwirrt, da das Mädchen und der Boutiquebesitzer sehr ähnlich gekleidet waren. Nur trug das Mädchen in einem eigenen Modestil ein T-Shirt unter einer weißen Bluse mit aufgestelltem Kragen, während der Mann, der außerordentlich gelassen wirkte, ein weißes Hemd mit aufgestellten Kragen anhatte. Außerdem gibt es Samstags am Naschmarkt auch schöne, billige Klamotten. Wollte sie ausgerechnet aus seinem Kleidergeschäft etwas haben?
«Bleiben Sie zurück»
Schottentor in Wien, Babylon. Zwei weitere Polizisten tauchten auf, hämisch lachend eine Polizistin. Alle Einwände der Frau wies sie ab: «Kenn‘ ma schon!», sagte sie mit abwehrender Handbewegung. «Gehören Sie dazu? Bleiben Sie zurück. Können Sie rumänisch?», sagte der Polizist zu mir. Plötzlich drehte sich das Mädchen um, so dass es mit dem Rücken zur Polizei stand. «Tu‘ was! Mach‘ was!», rief es mir verschwörerisch und eindringlich zu. Mir blieb der Mund offen stehen. «Ich kann nicht viel machen», antwortete ich, denn meiner Erfahrung nach können oft z. B. Obdachlose viel besser mit Polizei oder Kontrolleuren umgehen, als ich. Ich wollte auch nicht stören, falls sich hier ein Ritual abspielt und die beiden nach einer Strafpredigt laufen gelassen werden. Aber österreichische Polizisten lassen sich nicht durch Tränen erweichen. «Ich rufe gleich den Herrn Ceipek, den Leiter der Drehscheibe an», drohte ich. «Wir, die Polizei rufen den Herrn Ceipek an», sagte der Polizist. «Sie müssen nicht extra den Herrn Ceipek anrufen.» Herr Ceipek kann aber sowieso nicht im Alleingang, alle Auffälligkeiten und Auseinandersetzungen um unbegleitete in Wien lebende Kinder lösen.
Ich musste dringend weg und weiß daher leider nicht, wie der ungleiche Zusammenprall zwischen Staatsmacht und zwei weinenden weiblichen Wesen im Endeffekt ausging. Ich konnte nicht wirklich was tun, trotzdem war es mir ein Bedürfnis mich neben die Frau und das Mädchen zu stellen.
Die zentrale Frage, die sich mir stellte, war: Wenn die Kleine nichts geklaut hat, kann sie doch nicht bestraft werden? Oder ist die Tat inzwischen schon nebensächlich und nur die angebliche Absicht zählt? Und was könnte man wirklich tun?