TUNMAG: Hausschlapfenpflicht & Bettelverbottun & lassen

Der Februar begann für die Klasse 4b mit einem Polizeieinsatz: Ausgang der U-Bahnstation Landstraße, am Vormittag des 2. Februar 2017. Die verdutzten Schülerinnen und Schülern der 4b-Klasse des Gymnasiums Kundmanngasse (Wien-Landstraße) werden von einer Gruppe Wiener Polizist_innen belehrt, dass ihr Experiment im Rahmen des Schulspezialprojekts «Zivilcourage» zum Thema «Betteln» gleichzusetzen sei mit dem Delikt des Bettelns von Minderjährigen. Robert Sommer war für den Augustin als teilnehmender Beobachter dabei.

Die Vorgeschichte: Eine engagierte Eltern-Initiative hat etwas Großartiges erreicht. Sie gestaltet den Unterricht um – ein Recht, das ihr in der Schulordnung zugebilligt wird, das aber in der Regel kaum zur Anwendung kommt. Die üblichen Unterrichtsfächer entfallen in den ersten vier Stunden zugunsten eines «Zivilcourage»-Experiments. In den Klassen ziehen sich die Professor_innen im besten Fall dezent zurück und beobachten aus der Distanz diejenigen, die sie an diesem Vormittag ersetzen. Das sind Aktivist_innen von Menschenrechtsorganisationen und sozialer Initiativen. Der Augustin, der bereits zum 5. Mal zum Zivilcourage-Tag eingeladen wurde, wird heuer einer der vierten Klassen des Gymnasiums zugeteilt.

Diesmal haben Andreas Hennefeld aus dem Sozialarbeiter_innenteam des Augustin und ich als schreibender Mitarbeiter eine Überraschung bereit. Unsere Fragestellung lautet, ob es nicht auch in der Schule Kundmanngasse ausreichend Gründe und Anlässe für zivil couragiertes Handeln, wenn nicht sogar zivilen Ungehorsams gäbe. Wir haben einen Fragebogen vorbereitet, um den Schüler_innen die Anonymität ihrer Kritik zu gewährleisten, doch zu unserer Befriedigung stellt sich bald heraus, dass auch die Anwesenheit von Lehrpersonen für die Lernenden kein Grund zur Vorsicht ist.

An dieser Stelle ein Kompliment an die Schüler_innen der 4b. Wir haben Kritisches erwartet, zumal wir durch die Lektüre von Schulordnung und Hausordnung über das autoritären Erbe, das in solchen Pflichten-ohne-Rechte-Sammlungen steckt, Bescheid wussten. Das Ausmaß der Kritik übertrifft aber selbst unsere Erwartungen. Allgemeiner Konsens ist, dass Regeln gültig sind, die man sofort ersatzlos aus den Regulitis-erkrankten Dokumenten streichen müsste, die selbst eloquenten Lehrenden beim Versuch, sie logisch zu begründen, ins Stottern bringen.

«Weil es hässlich ist»: Schülerin musste Piercing entfernen


Was die Schüler_innen überhaupt nicht einsehen: dass eine Schülerin mit der Begründung, es sei hässlich, gezwungen wurde, ihr neues Piercing zu entfernern; dass die Hausschlapfenpflicht für die Schüler_innen, nicht aber für die Lehrer_innen gilt, als ob letztere prinzipiell unschmutzigere Straßenschuhe trügen; dass das Handyverbot für die willkürlich festgesetzte Zeitspanne von 8 bis 12 Uhr mit der Anti-Mobbing-Vorsorge begründet wird, als ob Mobbing nur bis 12 Uhr verboten wäre; dass die Schulnoten automatisch um einen Grad verschlechtert werden, wenn die Schülerin, der Schüler etwas zum vierten Mal vergisst; dass Kaugummikauen während der Unterrichtsstunde wegen Erstickungsgefahr verboten ist; dass sich die Schüler_innen an die vom Klassenvorstand bestimmte Sitzordnung halten müssen (offiziellerseits soll damit verhindert werden, dass sich Freundeskreise zusammenballen, die dem Tratsch zugeneigt wären); dass Wollmützen und Kappen verboten sind, auch wenn sie zum Kleidungsstil bestimmter Jugendkulturszenen zählen; dass es auch verboten ist, während des Unterrichts Milch zu trinken oder eine Buttersemmel zu essen; dass man nach Unterrichtsschluss das Schulgebäude sofort verlassen muss; dass selbst die Erdgeschoßfenster immer geschlossen bleiben müssen, da sich ansonsten jemand zu Tode stürzen könne, etc. etc.

Die am meisten genannten Punkte der Kritik werden zusammengefasst und sollen dem Direktor der Schule überreicht werden: Beim Augustin ist ein Workshop zum Thema Zivilcourage nicht ohne auf Änderung abzielende Handlungsschritte zu haben. Auf Wunsch der 4b-Klasse soll die letzte Stunde des Zivilcourage-Spezialunterrichts «draußen in der Stadt» stattfinden. Mit geändertem Thema. Die von den Sicherheitsbehörden exekutierte Verschlechterung der Bedingungen für Bettlerinnen und Bettler, ist nun die Annahme, erfordere zivilcouragiertes Handeln und zivilgesellschaftliche Signale dafür, dass diese Stadt noch nicht ganz von jeder Empathie und Solidarität mit den Ärmsten der Armen gereinigt sei. Die 4b begibt sich in die U-Bahnstation Landstraße, um zu testen, was passiert, wenn eine oder eine sich auf den Boden setzt und einen Zettel mit der Aufschrift «Essen» vor den Plastikbecher legt.

So interessant kann Unterricht sein. Binnen fünf Minuten ist eine Security-Abordnung da, und in Minute sechs umzingelt eine sechsköpfe Gruppe uniformierter Beamt_innen die Jung-«Soziolog_innen», die die Feldforschung mit der Belehrung «Unterricht hin oder her, der Tatbestand bettelnde Kinder ist gegeben, Sie müssen mit einer Anzeige rechnen». Diese Sichtweise behalten die Polizist_innen auch bei, nachdem sich ein Professor einschaltet und den Unterrichtsbezug der Handlungen der Gymnasiast_innen bestätigt. «Ihr Unterricht ist aber gründlich daneben gegangen», ätzt einer der Beamten. «Im Gegenteil,», erwidert der Sozialarbeiter vom Augustin: «So gut wie jetzt hat noch keiner unserer Zivilcourage-Workshops funktioniert.» Es ist deutlich zu erkennen, dass dem Ordnungshüter diese Logik verschlossen bleibt. Die Schüler_innen haben an diesem Tag vieles gelernt. Auch, dass das Verbot, im Unterricht Kaugummi zu kauen, verglichen mit den zum Alltag der bettelnden Menschen gewordenen inhumanen Verordnungen leichter wiegt. Aber nicht so leicht, dass man es einfach hinnehmen sollte.

 

Projekt Zivilcourage des Gymnasiums Kundmanngasse

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