TUNMAG: Zwei Mal Fokus auf Frankreichtun & lassen

(1): Bildung garantiert für alle

Ohne Matura Marcuse hören

(2): Warum nicht Generalstreik?

Der Schnauzbart ist entzaubert

Ohne Matura Marcuse hören


Mensch muss kein Nostalgiker, keine Nostalgikerin sein, um der Universität von Vincennes in Frankreich nachzutrauern, die etwas in die Realität umsetzte, was 1968 als Selbstverständlichkeit galt, was heute nur noch in Weltverbesserungsträumen vorzukommen scheint. Die Uni setzte das Prinzip «Bildung für alle» durch. Obwohl die intellektuellen Größen der Welt wie Foucault, Deleuze, Lyotard, Lacan, Cixous, Rancière, Chomsky, Pasolini, Rivette und Marcuse sich dort die Klinke in die Hand drückten, wurde nicht nur kein Studiengeld verlangt, sondern jede und jeder konnte die Vorlesungen besuchen – nach Maturaabschluss wurde nicht gefragt.

Für die Dreharbeiten der ARTE-Dokumentation über die Universität von Vincennes sind ehemalige Student_innen, Professor_innen und Universitätsangestellte von Vincennes noch einmal dorthin zurückgekehrt, wo Wissenschaft und Bildung auf eine heute revolutionär anmutende Art und Weise angegangen wurden. Aus den Rückblicken und dem Archivmaterial wird auch deutlich, wie sehr die persönliche Geschichte der Regisseurin Virginie Linhart mit Vincennes verbunden ist. Sie, die als junges Mädchen ihren Vater, den Schriftsteller und Philosophiedozenten Robert Linhart, zu dieser Uni begleitete, wirft nun eine große Frage auf: Wie steht es in der heutigen Gesellschaft, in der ein harter Wettbewerb um den Zugang zum höheren Bildungswesen entstanden ist, um das Recht auf Bildung für alle?

Vincennes besaß als erste Universität eine angegliederte Filmhochschule sowie Frankreichs erste Fakultäten für Informatik, Psychoanalyse und Bildende Kunst. In den stürmischen 70er Jahren formierte sich dort die französische Frauenbewegung MLF sowie die FHAR-Bewegung, die sich für die Enttabuisierung von Homosexualität in der Gesellschaft einsetzte.

Einerseits erzählt die empfehlenswerte ARTE-Dokumentation (die am 1. Juni erstmals ausgestrahlt wurde) die Erfolgsgeschichte der Universität. Anderseits blickt die Dokumentation aber auch auf das abrupte Ende aller Visionen, als 1980 schließlich die Eingliederung der Fakultät in die Universität Saint-Denis erzwungen wurde.

Dass in Wien der Imperativ «Bildung für alle» nie in diesem französisch-radikalen Sinn angedacht, geschweige denn verwirklicht wurde, ist höchstens durch den Umstand verschmerzbar, dass die Studis am Ring nicht auf die progressive Avantgarde der kritischen Intelligenzija gestoßen wären, sondern auf einen Lehrkörper, der zum Teil noch die Ressentiments ihrer braunen Vergangenheit bewahrte.

«Vincennes – die revolutionäre Uni», ARTE 2016, 90 Minuten

 

Der Schnauzbart ist entzaubert


Bei Redaktionschluss dieser Ausgabe war nicht abzuschätzen, ob und wie sich die Streikbewegungen in Frankreich auf den Betrieb der Fußballeuropameisterschaft auswirken. Klar ist, dass die sich radikalisierende Bewegung gegen den sozialdemokratischen Vorstoß, das Arbeitsrecht im Sinne der Konzerne zu «reformieren», in der französischen Zivilgesellschaft anders beurteilt wird als in der mitteleuropäischen. Obwohl der Chef der Arbeitgeber, Pierre Gattaz, die Streikenden «Terroristen, Erpresser und Gauner» nannte, befürwortet die Bevölkerung die Streiks in nach wie vor großer Mehrheit; die brennenden Polizeiautos reduzieren in Frankreich die Sympathiewerte für rebellische Werktätige um kein relevantes Maß.

Die Bevölkerung in Ländern wie Deutschland und Österreich scheint dagegen jenen Medien zu vertrauen, die den Streik zu einer ökonomischen Wahnsinnstat aufbauschen. «Frankreich lebt eindeutig über seine Verhältnisse», ist der Tenor des Wirtschaftsjournalismus. Die immer gleiche neoliberale Litanei wirkt schon fad. Dass nur eine «Flexibilisierung» des Arbeitsmarktes – dieser Begriff aus der Konzernsprache steht für mehr prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne, befristete Arbeit und Einkommensungleichheit – am Ende zu besseren Jobchancen führen würde, ist längst widerlegt.

Paradox an den französischen Geschehnissen ist, das ausgerechnet jener Arbeiter- und Streikführer, der wegen seiner «Radikalität» und «Eskalationsbereitschaft» von den neoliberalen Medien zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt wird, den historischen Verrat der Gewerkschaftsbürokratie an der Arbeiter_innen verkörpert, wie unabhängige Gewerkschafter_innen behaupten. Philippe Martinez, so heißt der schnauzbärtige und wortaggressive Chef der Confédération générale du travail (CGT), wird von diesen kritischen Gewerkschaftsaktivist_innen in die Reihe jener CGT-Führer gestellt, die zwar revolutionär reden, aber die Revolution damit verhindern. Martinez wird dem CGT-Führer Georges Séguy verglichen, der 1968 ausgebuht und aus der Renault-Fabrik in Boulogne-Billancourt geworfen wurde, als er mitten im Generalstreik versuchte, die Arbeiter_innen zurück an die Arbeit zu zwingen.

Martinez sprach in den vergangenen Tagen immer davon, dass man die Streiks gegen die neuen Arbeitsrechtgesetze «generalisieren» (im Sinne von ausweiten) müsse. Diese Formulierung ist in Frankreich mittlerweile zu einem Kampfbegriff gegen die Forderung nach «Generalstreik» geworden, zu dem die Bevölkerung nach Ansicht vieler Beobachter_innen reif wie nie seit 1968 sei. Man munkelt über geheime Absprachen zwischen der CGT-Spitze und der sozialdemokratischen Regierung, diesen Generalstreik (den dann eigentlich auch die Profifußballer des französischen Nationalteams nicht brechen dürften) zu verhindern.

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